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die erste Frage die nach dem obersten Prinzip dieses Systems
sein.
Mit dem siegreichen Vordringen der demokratischen Anschau-
ungen in der ganzen Kulturwelt (Demokratie ist hier nicht als
Parteidoktrin, sondern als das Ideal der Gleichberechtigung aller
Menschen gefaßt) wurde das Prinzip der Volkssouveränität für
jedes demokratische Staatswesen als oberster Grundsatz anerkannt.
Die Frage ist nun, welches System läßt die Souveränität des
Volkes bei der Regierungsbildung am unmittelbarsten zum Aus-
druck kommen? Sowohl das französische wie das Schweizer System
scheiden hier aus. Die Volkssouveränität wird bei beiden wohl aner-
kannt, das Volk kann aber die Regierungsbildung nur indirekt,
auf dem Umweg über die Volksvertretung beeinflussen. Anders
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, hier bestimmt der
Volkswille die Regierungsbildung auf direktem Wege; aber das
amerikanische System der Gewaltenteilung erweist sich im übrigen
in der Praxis mehr und mehr als völlig ungeeignet für ein mo-
dernes Staatswesen. Dagegen entspricht das parlamentarische
System in seiner echten Form nicht nur den Ansprüchen der
Zweckmäßigkeit, der Wille des souveränen Volkes kommt hier
auch bei der Regierungsbildung direkt zu Worte. Dieser Umstand
hat dem parlamentarischen System zu seinem Siegeszug verholfen
und durch diesen Umstand sah man sich auch veranlaßt, sich
bei der neuen Verfassung für das Deutsche Reich für dieses
System zu entscheiden. Diese Entscheidung bietet noch keine
Gewähr dafür, daß das System hier ebenso segensreich wirkt wie
in anderen Staaten; das hängt von so zahlreichen Faktoren ab»
daß es vielleicht erst nach Jahrzehnten möglich ist, ein endgültiges
Urteil darüber abzugeben. Aehnlich ist die Lage in den Ländern
des Deutschen Reiches; die Synthese vom Parlamentarismus und
Direktorialsystem wird hier voraussichtlich zu einem unechten
Parlamentarismus führen, aber auch hier wäre ein abschließendes
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