Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

112 Drittes Buch. Die Organisetion des Deutschen Reiches. 
nur ein sachverständiges Gutachten, welches nur dadurch bindende Kraft und recht- 
liche Bedeutung erlange, daß es der Bundesrath bestätigt; vgl. auch Thudichum, 
Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes, S. 110, Georg Meyer, Staats- 
recht, 5§ 212, Anm. 6, Zorn, Reichsstaatsrecht, I. S. 171, v. Martitz, Betrach- 
tungen über die Verfassung des Norddeutschen Bundes, Leipzig 1880, S. 36, Hänel, 
Reichsstaatsrecht, I, S. 5738 ff. 
Die im Vorstehenden vertretene Ansicht deckt sich mit der Praxis; s. diese in 
Seydel's Commentar, S. 406 f. 
Mit Recht bemerkt Riedel in seiner Bearbeitung der Reichsverfaffung, 
S. 162, daß unter Artikel 76, Abs. 1 der Reichsverfassung die Streitigkeiten nicht 
sallen, welche sich über den Vollzug des Gothaer Vertrages vom 15. Juli 1851 
ergeben, da dieser Vertrag in § 12 über die Schlichtung von Streitigkeiten be- 
sondere Bestimmungen enthält und, soweit er überhaupt noch Anwendung findet, 
in seiner Totalität aufrecht erhalten wurde. Streitigkeiten wegen Armenlasten u. s. w. 
werden, wenn zwei Bundesstaaten in Betracht kommen, nicht vom Bundesrath, 
sondern vom Bundesamt für das Heimathwesen entschieden; Gesetz über den Unter- 
stützungswohnsitz vom 6. Juni 1870 (B.-G.-Bl. 1870, S. 360), §§ 37 ff. 
Aus dem Worte „erledigt“, wie aus dem Vorbilde der deutschen Bundesacte 
und der Wiener Schlußacte (s. oben S. 10 und Zachariä, Deutsches Staats- 
und Bundesrecht, § 272, II, S. 753 ff.) ergiebt sich die Befugniß des Bundes- 
rathes, die von ihm herbeigeführte Entscheidung nöthigenfalls auch zur Vollstreckung 
zu bringen. Die Verfassung unterstellt, daß jeder Bundesstaat sich einer solchen 
Entscheidung fügt. Geschieht dies nicht, so verletzt der Bundesstaat eine ihm ver- 
fassungsmäßig obliegende Pflicht und kann zu deren Erfüllung im Wege der Bundes- 
execution (Art. 19 der Reichsverfassung) angehalten werden. 
Artikel 76, Abs. 2 der Reichsverfassung bestimmt: 
„Verfassungsstreitigkeiten in solchen Bundesstaaten, in deren Verfassung 
nicht eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist, hat 
auf Anrufen eines Theiles der Bundesrath gütlich auszugleichen oder, 
wenn das nicht gelingt, im Wege der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu 
ringen.“ 
Eine Verfassungsstreitigkeit liegt nur bei einem Streite zwischen Regierung 
und Landtag oder einem Hause des Landtages, nicht schon dann vor, wenn irgend 
ein Dritter behauptete, daß die Verfassung verletzt oder ungültig sei, z. B. das 
preußische Herrenhaus nicht zu Recht bestehe, oder wenn ein Magistrat behauptet, 
daß ein Landesgesetz gegen die Reichsverfassung verstoße (Bundesrathsprotokolle 
137478 94 S. 70, Laband, Reichsstaatsrecht, I. S. 237, Arndt, Kommentar, 
Gegenstand des Streites, dessen Erledigung der Bundesrath auf Anrufen herbei- 
führen kann, können sowohl die Auslegung, wie die Ausführung, wie endlich die 
Rechtmäßigkeit der Verfassung sein. 
Der Bundesrath ist nur zuständig, wenn in dem Bundesstaate selbst eine 
Behörde zur Entscheidung der Verfassungsstreitigkeit nicht vorhanden ist, oder 
wenn die von dieser Behörde getroffene Entscheidung von dem einen oder dem 
anderen Theile nicht anerkannt wird. Auch diese Aufgabe des Bundesrathes ist 
dem Rechte des ehemaligen Deutschen Bundes entnommen; vgl. Zachariä, 
Deutsches Landes= und Bundesrecht, II, § 279. Insbesondere sollte der Bundestag 
auf Anrufen einer Regierung einschreiten, wenn dieser die Mittel zur Führung einer 
den Bundespflichten und der Landesverfassung entsprechenden Regierung verweigert und 
„alle verfassungsmäßigen und mit den Gesetzen vereinbarlichen Wege zu deren ge- 
nügender Beseitigung ohne Erfolg eingeschlagen worden find“ (Bundesbeschluß vom 
30. October 1834, Zachariä, II, S. 780). Der Deutsche Bund, die Bundes- 
versammlung, entschied in solchen Fällen nicht unmittelbar, vielmehr überwies fie 
die Entscheidung dem im Jahre 1834 errichteten Bundesschiedsgericht, dessen 
Bildung, Verfahren u. s. w. in dem Bundesbeschlusse vom 30. October 1834 
angegeben sind. Wenn die Reichsverfassung vorschreibt, daß der Bundesrath solche 
an ihn gebrachten Verfassungsstreitigkeiten im Wege der Reichsgesetzgebung zur
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.