Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

Viertes Buch. 
Die Gesetzgebung des Deutschen Reiches. 
  
8 22. Der Begriff des Reichsgesetzes. 
Es ist oben S. 42 nachgewiesen worden und in der Praxis wie wohl auch in 
der Theorie unstreitig, daß das Deutsche Reich nur diejenigen Befugnisse besitze, 
welche ihm in der Reichsverfassung übertragen oder auf Grund der Reichsverfassung 
von ihm erworben find. Daraus ergiebt sich, daß kein Organ des Reiches Be- 
fugnisse aus eigener Macht besitzt, etwa wie der König von Preußen, der neben 
den ihm durch die Preußische Verfassung belassenen auch noch die in der Verfassung 
ihm nicht entzogenen Rechte aus eigener Macht ausübt; daraus ergiebt sich ferner, 
daß weder Kaiser noch Bundesrath Namens des Reiches Normen aufstellen können, 
wenn ihnen die Befugniß dazu nicht durch ein Reichsgesetz übertragen ist; s. Arndt, 
Annalen des Deutschen Reiches, 1883, S. 701 ff., dem sich A. Hänel, Staats- 
recht, I, S. 272, Anm. 2, Laband, Staatsrecht, I, S. 568, Anm. 1, und 
Seydel, Comm., S. 189, hierin angeschlossen haben. Die für das Bundesstaats- 
recht bestehende Streitfrage, ob Rechtsnormen vom Landesherrn ohne formellez 
Gesetz und ohne eine in einem formellen Gesetze ertheilte Delegation gültig erlassen 
werden können, ist sonach für das deutsche Reichsrecht ausgeschlossen. In der 
Form des Gesetzes kann das Reich anordnen, was es will, es kann selbst seine 
verfassungsmäßige Zuständigkeit sich erweitern, wenn das Gesetz dem Art. 78 der 
Reichsverfassung entspricht. Es kann in der Form des Gesetzes sonach neue Rechts- 
normen aufstellen und alte aufheben, es kann ferner seine Grenzen erweitern, An- 
leihen aufnehmen, Colonien und Monopole erwerben u. s. w. In anderer als der 
gesetzlichen Form kann es nur eine Befugniß ausüben, die ihm in einem Gesetze 
übertragen worden ist. 
Die Streitfrage, ob das Gesetz im Sprachgebrauche der Verfassungen ein for- 
meller oder ein materieller Begriff ist, hat nach dem Vorstehenden für das Reichs- 
staatsrecht eine geringere Bedeutung als für das Landesstaatsrecht. Gleichwohl ist 
die Frage auch für das Reichsstaatsrecht keineswegs bedeutungslos. Deshalb kann 
ihre Erörterung nicht vermieden werden. 
Die „Theorie“ oder richtiger die in der Wissenschaft vorherrschende Meinung 
versteht in Deutschland unter Gesetz die Anordnung eines Rechtssatzes; sie ver- 
bindet mit dem Begriffe Gesetz regelmäßig einen materiellen Inhalt. Einige 
Theoretiker, Laband, G. Meyer u. A., kennen ausnahmsweise auch „bloß 
formelle“ Gesetze, welche nur Verwaltungsacte in der Form des Gesetzes seien und 
keine Rechtssätze darstellen, wie ihrer Ansicht nach das Staatshaushaltsetatsgesetz 
ein solches sein soll, während Andere, z. B. A. Hänel, auch in solchen Gesetzen 
wie dem Staatshaushaltsetatsgesetz Rechtsnormen erkennen, also auch in ihnen 
materielle Gesetze sehen.
	        
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