172 Viertes Buch. Die Gesetzgebnug des Deutschen Reiches.
24. Verhältniß der Reichs= zur Landesgesetzgebung, Inkrafttreten
1n und Wirksamkeit der esgrie etze.
Das Recht der Gesetzgebung, d. i. das Recht der höchsten Staatsgewalt zum
Erlasse unbedingt verbindlicher Anordnungen, ist, wie bereits früher hervorgehoben
worden, dem Reiche nicht uneingeschränkt, sondern nur „nach Maßgabe des Inhalts
der Reichsverfassung“ übertragen. Dem Wortlaute des Artikels 2 der Reichs-
verfassung zufolge wird nur die Ausübung des Rechts der Gesetzgebung über-
tragen. Dies legt Seydel (Comm. S. 41) dahin aus, daß das Reich nicht das
Gesetzgebungsrecht hat, sondern es nur ausübt; die Reichsgesetze erscheinen ihm
hiernach nur als Übereinstimmende Landesgesetze. Ganz gewiß hat der Gesetzgeber
an eine solche Schlußfolgerung nicht gedacht. Die norddeutsche Bundes-= bezw. die
deutsche Reichsverfassung trat einen Theil der Gesetzgebungsbefugniß, die bisher
den Landesgesetzgebungen zustand, unwiderruflich an den Bundes= bezw. Reichs-
gesetzgeber ab. Was auf Grund und in Folge der zur eigenen Verfügung
abgetretenen Gesetzgebungsbefugniß vom Reichsgesetzgeber angeordnet wird, ist aber
ebenso dessen eigene Norm und keine bloß übereinstimmende Landesnorm, wie die
Gesetze des constitutionellen Staates nicht mehr Normen des absoluten Monarchen
find, der einen Theil der ihm bis dahin zustehenden Gesetzgebungsbefugnisse dem
Landtage in der Constitution übertrug. Der Ausdruck „übt aus“ drückt nicht den
Gegensatz aus zum Rechte der Ausübung und erklärt sich aus dem herkömmlichen
Sprachgebrauche, der dahin geht, zu sagen, die Gesetzgebung oder die gesetzgebende
Gewalt wird von dem oder jenem ausgeübt. Höchstens könnte man sagen, der
Ausdruck „übt aus“ in Art. 2 und „wird ausgeübt“ in Art. 5 will klarstellen,
daß die Gesetzgebungsbefugniß nicht den Mitgliedern des Bundesrathes und des
Reichstages, sondern den im Bundesrathe vertretenen Souveränen zusteht und aus-
geübt wird durch die übereinstimmenden Mehrheitsbeschlüsse des Bundesraths und
des Reichstages.
Dem Reiche steht die Gesetzgebungsbefugniß nach Art. 2 „innerhalb des
Bundesgebietes“ zu. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Reichsgesetze außerhalb
des Bundesgebietes nicht gelten, noch daß sie nicht einen bloßen Theil des Bundes-
gebietes betreffen dürfen 1, sondern daß für die Gesetzgebung des Reiches das
Bundesgebiet eine „Einheit“ ist, und daß die das Bundesgebiet ausmachenden
Bundesstaaten für die räumliche Geltung der Reichsgesetze — abgesehen von den
Reservatrechten, Art. 78, Abs. 2 — „beine gesonderten Rechtsgebiete bilden“ 32. Die
einfachste Erklärung dürfte aber die sein, daß die Gesetzgebung des Reiches nicht
auf das Gebiet eines Bundesstaates beschränkt sein soll, sondern das ganze Bundes-
gebiet umfassen darf. Die Reichsverfassung stattet die Reichsgesetzgebung durch
Art. 2 mit der Wirkung aus, „daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen“.
Der Vorrang der Reichsgesetze vor den Landesgesetzen beruht nicht etwa darauf,
daß ihre Sanction von der höheren, und zwar der souveränen, Gewalt ausgeht,
zumal diese Wirkung nur den nach Maßgabe der Verfassung erlassenen, nicht allen
Reichsgesetzen beigelegt ist, sondern darauf, daß die bis dahin souveränen Landes-
gesetzgebungen und Bundesstaaten eine solche Wirkung den Reichsgesetzen beigelegt,
daß sie mit anderen Worten einen Theil ihrer Souveränetät dem Reiche übertragen
haben; ebenso wie der absolute Monarch einen Theil der ihm bis dahin zu-
gestandenen Gesetzgebungsbefugniß der gesetzgebenden Gewalt, d. h. ihm in Gemeinschaft
mit der Volksvertretung mit der Wirkung übertragen konnte und übertrug, daß die in
Zukunft von der gesetzgebenden Gewalt getroffenen Gesetze den von ihm allein
(ohne Zustimmung der Volksvertretung) erlassenen Ver= und Anordnungen vor-
gehen. Diese Wirkung des Vorrangs haben die Reichsgesetze auch gegenüber den
1 S. Gesetz vom 4. Mai 1868 (B.-G.-Bl.] Gebietstheile galt, u. a. m.
1868, S. 151), das nur für Hohenzollern, Gesetz * S. auch Laband, I1, S. 582, Hänel, J.
vom 4. Juli 1868 (B.-G.-Bl. 1868, S. 375), das S. 245 f., Zorn, I, S. 421.
nur für beide Mecklenburg, Lübeck und preußische