Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

8 A. Das Verordunnssrecht. 207 
eine Dispensation nur statthaft ist, wenn in der Verordnung das Recht dazu (im 
Voraus) vorbehalten ist!. 
Von wem und wie eine Verordnung aufzuheben ist, hängt von dem 
Gesetze ab, auf Grund dessen die Verordnung erlassen wurde. Als Regel ist an- 
zunehmen, daß der Verordnungsberechtigte seine eigene Verordnung wieder aufheben 
kann. Der Gesetzgeber kann dies durch ausdrückliche Vorschrift untersagen. So 
bestimmt § 15 des Wahlgesetzes für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 
31. Mai 1869 (B.-G.-Bl. 1869, S. 145), daß das vom Bundesrath erlassene 
Wahlreglement nur unter Zustimmung des Reichstages abgeändert werden kann 2. 
Der Gesetzgeber kann auch vorschreiben, daß Verordnungen außer Kraft zu setzen 
sind, wenn dies der nächste Reichstag verlangt (§ 139a, Abs. 3 der Gewerbe- 
ordnung, §§ 5 und 6 des Gesetzes, betr. den Verkehr mit Nahrungsmitteln u. s. w. 
vom 14. Mai 1879, R.-G.-Bl. 1879, S. 145). Auch kann der Gesetzgeber vor- 
schreiben, daß ein Dritter ohne Weiteres die Verordnung aufheben kann. So 
kann der Reichskanzler die von den Reichskonsuln erlassenen Polizeiverordnungen 
aufheben (Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit vom 10. Juli 1879, R.-G.-Bl. 
1879, S. 197, § 4, Abs. 4). Die allgemeine Rechtsregel: „nihil tam naturale 
est, quam eo genere quidque dissolvere, qduo colligatum est;“ 1. 35 Dig. de 
regulis juris (50, 17) gilt sonach nur eingeschränkt für Verordnungen. 
Aus dem Verhältnisse, in welchem das Reichsrecht zum Landesrecht steht, 
ergiebt sich, daß, wenn zur Ausführung eines Reichsgesetzes Ausführungs- 
verordnungen von den Einzelregierungen — kraft einer im Reichsgesetze erklärten 
Ermächtigung — ergehen, diese ipso jure außer Wirksamkeit treten, soweit der 
Bundesrath gemäß Art. 7, Ziff. 2 der Reichsverfassung eine gemeinschaftliche 
Ausführungsverordnung für das ganze Reich erläßt 3. Schließlich ergiebt sich aus 
dem Verhältnisse, in welchem die Verordnung zum Gesetze steht, daß jede Reichs- 
verordnung durch Reichsgesetz aufsgehoben werden kann, nicht nur ausdrücklich, 
sondern auch stillschweigend — nämlich dann, wenn das Reichsgesetz eine andere 
Vorschrift trifft. 
Als eine vierte und letzte Art der Verordnung läßt sich die in der Theorie 
sogenannte Verwaltungsverordnung bezeichnen. Diese nennt sonst Niemand 
so in Wirklichkeit. Unter einer Verwaltungsverordnung versteht man eine An- 
ordnung, welche nicht für Jedermann, den es angeht, d. i. für das Publicum, 
sondern nur für die unterstellten Verwaltungsbehörden verbindlich sein soll. Als 
solche Verwaltungsverordnung werden bezeichnet z. B. die Postordnung und die 
Eisenbahnverkehrsordnung. Diese enthalten indessen zwingende Rechtsnormen, die 
Postordnung für Jedermann, die Eisenbahnverkehrsordnung des Bundesraths für 
Jeden, der Eisenbahnbetrieb führt (der also nicht in einem Untergebenheits- 
verhältnisse zum Bundesrathe steht), theilweise sogar, z. B. in dem Verbot, 
explofible Stoffe mit sich zu führen, den Bahnkörper zu betreten, für Jedermann. 
Auf diese Fälle wird später zurückzukommen sein. Was als Verwaltungsverordnung 
bezeichnet werden kann, sind Belehrungen und Dienstbefehle, welche Untergebenen 
ertheilt werden. Diese gelten nicht, weil fie Rechtsnormen find, sondern weil jeder 
Untergebene seinem Vorgesetzten zu gehorchen hat. Solche Verwaltungsverordnungen 
kennt auch das belgisch-französische Recht“. 
1 Arndt, Lec. S. 229; fiehe auch Block,21. Juni 1872 (Preuß. Abgaben-Centralbl. 1872, 
Dictionnaire de FAdministration frang. 3s. m. S. 318), die des preuß. Finanzministers vom 
dispense, ur. 3. 20. Juni 1868 (ebendort 1868, S. 347). Siehe 
2 Aehnliche Vorschriften find in Art. 1 des auch Arndt, Verordnungsrecht, S. 94 f. 
preuß. Ges., betr. die Bildung der Ersten Kammer 4 Giron, Le droit administratif de la 
vom 7. Mai 1853 (G.-S. 1853, S. 181) ent-Belgique, Bruxelles 1881, nr. 86: „Les cir- 
lien; s. auch § 9 des preuß. Ges. v. 24. April culaires des ministres (im Unterschiede von den 
878 (G.-S. 1878, S. 230) reglements, décrets und arrétés) obligent les 
* 3.B. die Bundesrathsverordnung über die agents d'’exécution, mais ne lient pas les 
Denaturirung von Vieh= 2c. Salz u. f. w. vom citoyens ni les tribunaux.“ 
  
  
 
	        
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