Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

6 29. Die freie Bewetzung der Reichsangehörigen im Reiche. 219 
deren Vorsitzender wie mindestens die Hälfte der Mitglieder die Qualification zum 
höheren Richteramt besitzen müssen (§ 42). Die Entscheidung, an der mindestens 
drei Mitglieder theilnehmen müssen, erfolgt nach öffentlicher, mündlicher und contra- 
dictorischer Verhandlung durch ein mit Gründen versehenes Urtheil. Durch die 
Landesgesetzgebung kann diesem Reichsgerichtshof die Entscheidung auch von Streitig- 
keiten zwischen den Armenverbänden desselben Bundesstaates im beschränkten oder 
unbeschränkten Umfange übertragen werden (was in Preußen, Hessen, Anhalt, Braun- 
schweig, Bremen, Lippe, Lübeck, Oldenburg, Reuß j. L., Sachsen-Altenburg, Koburg- 
Gotha, t#imar, Schwarzburg-Rudolstadt und -Sondershausen und Waldeck ge- 
schehen ist ½). 
Wer die Kosten der Armenpflege zu tragen hat, richtet sich nach Landesrecht. 
Gewöhnlich find es die Gemeinden, denen in Preußen die Kreise bei Geisteskranken, 
Epileptikern, Blinden und Taubstummen zwei Drittel der Kosten ersetzen müssen. 
Die Verpflichtung der Armenverbände zur Armenlast ist eine höchst subsidiäre, 
d. h. jeder Armenverband, welcher einen Hülfsbedürftigen unterstützt hat, ist befugt, 
Ersatz derjenigen Leistungen, zu deren Gewährung ein Dritter aus anderen als 
den durch das Unterstützungswohnsitzgesetz begründeten Titeln verpflichtet ist, von 
dem Verpflichteten in demselben Maße und unter denselben Voraussetzungen zu 
sordern, als dem Unterstützten auf jene Leistungen ein Recht zusteht (§ 62). Er 
hat insbesondere also einen Ersatzanspruch an Die, welche die Unterhalts- 
pflicht nach allgemeinem Rechte haben (Bürgerliches Gesetzbuch §§ 1601—1615), 
serner gegen die Krankenkassen, Unfallberufsgenossenschaften und Invaliditäts= und 
Alters-Versicherungsanstalten. Er tritt (kraft gesetzlicher Cession) in die Rechte des 
von ihm Unterstützten und kann dessen Ansprüche gegen die Knappschaftsvereine, 
Krankenkassen, Invaliditäts-Versicherungsanstalten, Unfallberufsgenossenschaften u. s. w. 
mit allen diesem gegebenen Rechtsmitteln geltend machen. Bezüglich der Berufs- 
genofsenschaften und Versicherungsanstalten hat er demgemäß auch das Recht auf 
schiedsgerichtliche Entscheidung und demnächstige Anrufung des Reichs-Versicherungs- 
amtes. Im Uebrigen hat er den ordentlichen Rechtsweg, wofern nicht die Landes- 
gesetzgebung (wie theilweise in Preußen) an dessen Stelle den Verwaltungsrechts- 
weg gegeben hat. Das Bundesamt für das Heimathwesen ist nur für solche Ersatz- 
ansprüche zuständig, welche gegen andere Armenverbände geltend gemacht werden. 
Ausländer, d. fs. auch die Angehörigen Bayerns und Elsaß-Lothringens, 
müssen vorläufig von demjenigen Ortsarmenverbande unterstützt werden, in dessen 
Bezirke sie sich bei dem Eintritte der Hülfsbedürftigkeit befinden (6 60). Das 
preußische Ausführungsgesetz vom 8. März 1871 (G.-S. 1871, S. 130) bestimmt 
in § 64: „Jeder Ausländer ist, solange ihm der Aufenthalt im Inlande gestattet 
wird, in Bezug a) auf die Art und das Maaß der im Falle der Hülfsbedürftigkeit 
zu gewährenden öffentlichen Unterstützung, b) auf den Erwerb und Verlust des 
Unterstützungswohnsitzes einem Deutschen gleich zu behandeln.“ 
Für das Verhältniß von Bayern und Elsaß-Lothringen zu den übrigen 
Bundesstaaten find § 7 des Gesetzes über die Freizügigkeit vom 1. Nov. 1867 
und der Vertrag d. d. Gotha 15. Juli 18512 nebst den späteren zur Ausführung 
desselben getroffenen Verabredungen in Geltung geblieben. Nach der Gothaer 
Convention ist jeder Staat verpflichtet, seine Unterthanen und Die, welche dies waren, 
ohne die Angehörigkeit zu einem anderen Staate nach dessen Gesetzgebung erworben 
zu haben, auf Verlangen des anderen Staates wieder zu übernehmen. Gehörte die 
erson zu keiner Zeit einem anderen Staate an, so muß sie der Staat übernehmen, 
ein dessen Gebiet sie a) nach zurückgelegtem 21. Lebensjahre sich zuletzt fünf Jahre 
hindurch aufgehalten oder b) sich verheirathet und mit seiner Ehefrau unmittelbar 
nach seiner Eheschließung eine gemeinschaftliche Wohnung mindestens sechs Wochen 
mne gehabt hat , und wenn keiner der beiden Fälle zu a und b vorliegt, c) ge- 
boren ist. Ehefrauen find mit ihren Ehemännern zu übernehmen; bei Wittwen 
und geschiedenen Frauen ist das Verhältniß des Ehemannes zur Zeit seines Todes, 
bezw. der Ehescheidung maßgebend. Cheliche Kinder sind nach dem Verhältnisse 
□ 
  
1 Wohlerz-Krech, 8. Aufl., S. 206 f’f. „ Preuß. Ges.-S. 1851, S. 711.
	        
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