636. Das Reichshansbalts-Etatsgesetz. 337
Ein Mittel, wegen eines derartigen verfassungswidrigen Handelns — welches
moralisch auch dem Landtage zur Last fallen, ja sogar von diesem der Regierung
durch Nichterfüllung seiner verfassungsmäßigen Pflichten ausgezwungen werden
kann — das Ministerium zur Bestrafung, bezw. zur Niederlegung der Staats-
geschäfte zu zwingen, steht dem preußischen Landtag nicht zu!. Es kann hierbeie
nur bemerkt werden, daß in Staaten, wie in Preußen, wo drei im Wesentlichen
gleichberechtigte Factoren sich gegenüberstehen, das constitutionelle Leben auf
Compromisse angewiesen ist, keineswegs aber, wie v. Rönne, Schwartz u. A. in
solchem Falle wollen, die unbedingte Unterwerfung unter den alleinigen Willen des
Abgeordnetenhauses eintreten muß.
Was tritt nun ein, wenn im Reiche das Staatshaushalts-Etatsgesetz nicht zu
Stande kommt, z. B. der Reichstag überhaupt ein solches nicht beschließen will,
oder wenn der Reichstag Ausgaben gestrichen hat, zu denen er nach Ansicht der
Regierungen nicht befugt ist, z. B. die für Heer und Marine, und nunmehr der
Bundesrath sich weigert, den aus dem Reichstage hervorgegangenen Entwurf als
Gesetz zu sanctioniren? Oder der Kaiser publicirt es nicht, weil das preußische
Veto (Art. 5, Abs. 2 der Verfassung) in Militär= oder Steuersachen verletzt ist?
Oder was tritt ein, wenn das Staatshaushalts-Etatsgesetz nicht rechtzeitig zu
Stande kommt?
Für einen solchen Fall argumentirt Seydels wie folgt: „Die Befugnisse
des Reichstages stellen Selbstbeschränkungen dar, die sich die verbündeten Herrscher
auferlegt haben. Tritt im Reiche der eben geschilderte Fall ein, so gebrauchen die
Verbündeten ihre Bundesgewalt von der unvollziehbar gewordenen Selbstbeschränkung
frei, ebenso wie der einzelne Herrscher seine Staatsgewalt. Wenn es sich ereignet
hat, daß die Verwaltung ohne Etatsgesetz geführt werden mußte, so bedarf es
hierfür einer nachträglichen „Indemnität“ oder dergleichen nicht. Es ist kein Un-
recht geschehen, für das Jemand irgend Jemanden um Vergebung zu bitten hätte.
Wenn ein Etatsgesetz nicht zu Stande kommt, so ist das ein politisches Miß-
geschick für das Reich, eine Thatfache, die man hinnehmen muß, aber keine Gesetz-
widrigkeit. Einem Etatsgesetze aber, das nicht vorhanden ist, kann man nicht zu-
widerhandeln. Der Satz vollends, daß kein Geld ausgegeben werden darf, wenn
ein Etatsgesetz mangelt, ist ein Unsinn. Wenn das Reich sagt: II faut pourtant.
que je vive, kann man ihm nicht antworten: Je n'en vois pas la nécessité.
Und wen sollte man denn verantwortlich oder indemnitätspflichtig machen? Den
Bundesrath? Daran ist nicht zu denken. Oder den Reichskanzler? Aber dieser
kkann nichts dafür. Das Budget ist nicht zwischen dem Kaiser und dem Reichstag,
sondern zwischen dem Bundesrathe und dem Reichstage gescheitert, und der Reichs-
kanzler haftet bloß innerhalb des Umkreises der kaiserlichen Befugnisse. Es giebt
überhaupt für diesen Fall Niemanden, der die staatsrechtliche Pflicht hätte, als
Sündenbock zu dienen.“ Aehnlich, wenn auch weniger drastisch, spricht sich
Labands aus. Es könne nur irreführend sein, wenn man den thatsächlichen Zu-
stand, daß ein Etatsgesetz nicht vorhanden ist, als eine Verfassungsverletzung be-
zeichne, da in diesem Worte stets das Moment subjectiven Verschuldens mit enthalten
sei. Die auf Gesetz beruhenden, also die staatsrechtlich nothwendigen Ausgaben sei
die Regierung auch ohne Etatsgesetz (dem Reichstage gegenüber?) zu leisten so
befugt wie verpflichtet; rücksichtlich aller nicht auf speciellen Gesetzesvorschriften
beruhenden Ausgaben trage fie, wenn das Etatsgesetz nicht zu Stande kommt, eine
ahnliche Verantwortung wie bei der Verwaltung auf Grund eines Etatsgesetzes
hinsichtlich der außeretatsmäßigen Ausgaben.
Diesen Ausführungen kann ebensowenig beigestimmt werden, wie der entgegen-
gesetzten, z. B. von Waldeck im verfassungsberathenden Reichstage empfohlenen
Theorie, daß die Regierungen bei Meinungsverschiedenheit über den Etat mit dem
Reichstage an das Volk appelliren dürfen, und daß sie, wenn der Appell, namentlich
— —
1 Siehe Arndt, Anm. 1 zu Artikel 6 der 2 Comm., S. 357.
Preuß. Verf. 2 Reichsstaatsrecht, 1I, S. 962 ff.
Arndt, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. 22