Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

88 Die Errichtung des Dentschen Reiches. 37 
verträge, zurückgehen darf und zurückgehen muß, so ist vom Rechtsstandpunkte zu betonen 
und daran festzuhalten, daß sie ein in aller Form erlassenes Reichsgesetz 
darstellt und als solches zu behandeln ist. Aenderungen der Reichs- 
verfafsung haben daher nicht in der Form zu erfolgen, daß die Quellen der Reichs- 
verfassung, insbesondere die Novemberverträge, geändert werden. Die Verfassung 
vom 16. April 1871 stellt die Erfüllung von Verträgen dar, ist aber kein Ver- 
trag, sondern dem deutschen Volke gegenüber Gesetz, und zwar ein Reichsgesetz. 
Zutreffend bemerkt Hänel (Studien zum deutschen Staatsrecht, I. S. 89 ff., und 
Deutsches Staatsrecht, 1, S. 53): „Die Verfassung des Deutschen Reiches hat 
gegenwärtig zu ihrem ausschließlichen rechtlichen Entstehungsgrund ein Gesetz, und 
zwar ein Reichsgesetz, welches lediglich von Reichs wegen und nirgends in der 
Form des Particulargesetzes publicirt ist. Die Verfassungsverträge des Nord- 
deutschen Bundes und ihre particulargesetzlichen Publicationen haben für die 
deutsche Reichsverfassung nur noch die Bedeutung motivirender historischer That- 
sachen und den Werth eines wichtigen Materials für ihre Auslegung.“ 
Gegenüber der Verfassung für den Norddeutschen Bund enthalten die 
Novemberverträge und also auch die Verfassung für das Deutsche Reich eine er- 
hebliche Verstärkung des föderativen ElementsI und eine Schwächung der 
Centralgewalt. Diese liegen namentlich darin, daß Verfassungsänderungen erschwert 
wurden, daß die Südstaaten wichtige Reservatrechte erhielten, daß die Befugnisse 
der Präsidialmacht verringert, die des Bundesraths dagegen verstärkt wurden, daß 
insbesondere die Verordnungsbefugniß allgemein auf den Bundesrath überging ?. 
Schon der Zutritt mächtiger Staaten und deren Stimmenzahl im Bundesrath 
waren geeignet, das Uebergewicht Preußens zu vermindern. Auch die Einführung 
der Würde eines Deutschen Kaisers für die Wahrnehmung der Präfidialgeschäfte 
war mehr eine Verstärkung des äußeren Ansehens als der realen Macht. Der 
König von Preußen hatte als Inhaber des Präsidiums im Norddeutschen Bunde 
mehr Machtbefugnisse, als er sie heute unter der Bezeichnung Deutscher Kaiser hat. 
Die letzte an dieser Stelle zu behandelnde Frage ist die, ob das Deutsche 
Reich der Rechtsnachfolger des Norddeutschen Bundes geworden ist. Diese Frage 
ist zu bejahen , weil die süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund auf- 
genommen wurden, der darauf nur einen anderen Namen, nämlich den des Deutschen 
Bundes und später des Deutschen Reiches, angenommen hat. Das Deutsche Reich 
ist somit nur der erweiterte Norddeutsche Bund. Der Norddeutsche Bund und die 
süddeutschen Staaten haben kein neues Reich schaffen, sondern lediglich den unter 
dem Namen des Norddeutschen Bundes bestehenden Bund fortführen wollen. Der 
Abgeordnete Miquel bemerkte in dieser Beziehung am 7. December 1870 (Sten. 
Ber. des Reichstages, außerordentl. Session 1870, S. 132): „Ich sehe die Sache 
so an, daß das Rechtssubject, welches Vermögen und Schulden hat, der Nord- 
deutsche Bund, nicht untergeht, sondern bestehen bleibt, daß nur andere Staaten 
hinzutreten auf Grund der Bundesverfassung selber, auf Grund des bekannten 
Art. 79 der Bundesverfassung, und daß daher das Rechtssubject dasselbe bleibt,“ 
welche „Worte übrigens alsbald die Bestätigung des Ministers Delbrück er- 
hielten". 
In Wirklichkeit ist auch niemals bezweifelt worden, daß das Deutsche Reich 
ohne Weiteres in das Eigenthum des Norddeutschen Bundes an dessen Festungen, 
Kriegshäfen, Kriegsmaterial, Gebäuden u. s. w. eingetreten ist. Keineswegs sind 
zwischen dem Norddeutschen Bunde und dem Deutschen Reiche getrennte Vermögens- 
massen gebildet worden, wie z. B. bei der Bier= oder der Branntweinsteuergemein- 
schaft einer= und dem Deutschen Reiche andererseits. Nur aus Billigkeits- 
  
1 Vgl. auch die Rede Delbrück's im Sten. S. 82 u. A.; entgegengesetzter Meinung Seydel, 
Ver. des Reichstages, außerordentliche Session Comm., 2. Aufl., S. 30, v. Riedel, Die Ver- 
1870, S. 69. fassungsurkunde vom 16. April 1871, S. 77, 
2 Ugl. Arndt, Das Verordnungsrecht des 105, und Zorn, Reichsstaatsrecht, 2. Aufl., 
Deutschen Reiches, S. 51 ff. . 54. 
*# Ebenso Laband, 1, S. 41, R. v. Mohl, 1 Sten. Ber. d. Reichst., auß. Sess. 1870, 
Reichsstaatsrecht, S. 51, Hänel, Studien, I. S. 132. 
 
	        
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