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der Ansprüche Hollands; nach den durch das
Nationalitätenprinzip hervorgerufenen Kämpfen
auch das Königreich Italien. — Von weitwirken-
der politischer Bedeutung war die Aufnahme der
Türkei in das europäische Staatensystem durch
den Pariser Friedensschluß vom 30. März, rati-
fiziert am 27. April 1856. Die diesbezügliche
Stelle lautet: „Die kontrahierenden Mächte er-
klären die Hohe Pforte der Vorteile des öffent-
lichen europäischen Rechts und des europäischen
Konzerts teilhaftig. Sie verpflichten sich, die Un-
abhängigkeit und den Territorialbestand des os-
manischen Reichs zu achten, sie garantieren gemein-
schaftlich die genaue Beobachtung dieser Verpflich-
tung und werden demgemäß jedes die Türkei ge-
fährdende tätliche Vorgehen als eine Frage von
allgemeinem Interesse betrachten.“ Diese grund-
sätzliche Erklärung erhielt noch eine materielle
Garantie durch das besondere Übereinkommen
zwischen Großbritannien, Osterreich und Frank-
reich vom 29. April 1856, worin die kontrahieren-
den Mächte solidarisch wie einzeln die Unabhängig-
keit und Integrität des osmanischen Reichs gewähr-
leisteten und jede Verletzung des Pariser Vertrags
als Angriff auf die neu geschaffene Grundlage des
europäischen Territorialbestands erklärten. Die
völkerrechtliche Doktrin war hierdurch allerdings
gewahrt, wiewohl dahingestellt bleiben muß, ob
eine Form der Anerkennung, die man über einen
Staat, nicht aber mit demselben vereinbart, die
Überzeugung von seiner Gleichberechtigung un-
zweideutig zum Ausdruck bringt. — Weitere Bei-
spiele der neueren Völkerrechtsgeschichte sind: die
Anerkennungvon Montenegro, Serbien, Rumänien
als unabhängige Staaten durch den Berliner Kon-
greß 1878, jene des Kongostaats (die Flagge der
Assoziation als jene einer befreundeten Macht war
schon 1884 anerkannt worden) durch die Berliner
Konferenz 1885. — Hiervon zu unterscheiden ist
die Anerkennung bestimmter Völkerrechtsgrund-
sätze, z. B. über die Okkupation von herrenlosen
Gebieten, die Ubernahme eines Protektorats, einer
Schutzherrlichkeit usw. Diesbezüglich erklärt die
Akte der obenerwähnten Konferenz, daß jeder Neu-
erwerb einer Kolonialmacht an der afrikanischen
Küste und landeinwärts nur dann als zu Recht
bestehend erkannt werden würde, wofern die in
Besitz oder in Schutz genommenen Gebiete oder
Orte unter eine zur Aufrechterhaltung der inneren
Ordnung und des Handelsverkehrs genügende
Obrigkeit gestellt und die Konferenzmächte hier-
von unter Nachweis der diesbezüglichen Bürg-
schaften verständigt werden.
Die Grundsätze, welche die Völkerrechtslehre
in Bezug auf staatliche Bildungen oder Neu-
erwerbungen ohne Rücksicht auf den Entstehungs-
grund aufstellt, sind kurz folgende: 1. Ein staats-
rechtlich konsolidierter Staat ist kraft seiner staat-
lichen Existenz auch Subjekt des Völkerrechts, ohne
daß es der Anerkennung bedürfte. 2. Grund und
Wesen der völkerrechtlichen Persönlichkeit liegen
Anerkennung.
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in der Souveränität, als dem Inbegriff dessen,
was ein Staatswesen seiner freien Selbstbestim-
mung und Unabhängigkeit nach vermag. Daher
sind nicht vollkommen souveräne oder Vasallen-
staaten kein Gegenstand internationaler Anerken-
nung. 3. Die Anerkennung selbst ist weder Grund
noch Bedingung der Souveränität. Sie erzeugt
weder dieses aus der selbstbestimmenden Kraft
eines Staats hervorgehende Recht, noch vermehrt
sie dasselbe, sondern sichert es nur seinem Geltungs-
bereich nach. 4. Folgerichtig ist auch die Anerken-
nung keine Garantie der Souveränität. Sie hält
sich nur an die äußerlichen Tatsachen und besagt,
daß der anerkannte Staat dem eigenen als Per-
sönlichkeit gegenüberstehe und daß man mit ihm
zu unterhandeln und in dauernde Verbindung zu
treten für möglich halte. Der Effekt der Aner-
kennung liegt daher in der Anbahnung eines den
Gebräuchen und Verträgen des Völkerrechts kon-
formen internationalen Verkehrs. 5. Die Aner-
kennung braucht nicht ausdrücklich zu geschehen.
Es genügt, wenn stillschweigende Anerkennung
durch solche Akte zum Ausdruck gebracht wird,
welche den Beginn geregelter völkerrechtlicher Be-
ziehungen zweifellos erkennen lassen (Japan seit
1899, Panama 1903, Norwegen 1905). 6. Die
Anerkennung, weil nur die tatsächliche, nicht die
staatsrechtliche Grundlage der Herrschaft berück-
sichtigend, kann als ein Akt der Feindseligkeit einem
dritten Staat gegenüber, dem durch die Bildung
oder Vergrößerung des anerkannten Staats Ein-
trag geschehen ist, nicht aufgefaßt werden. Denn
anerkannt werden die Tatsachen und nicht deren
Rechtmäßigkeit und sittliche Berechtigung, bezüg-
lich deren sich jeder Staat die Freiheit des Urteils
vorbehält. 7. Umgekehrt wäre jedoch in der Ver-
weigerung der nachgesuchten Anerkennung eine
Unfreundlichkeit gelegen, wofür der Grund um so
weniger verweigert werden könnte, als Herkommen
und Zweckmäßigkeit schon im Interesse der Unter-
tanen sowie des wechselseitigen Verkehrs ein
achtungsvolles Entgegenkommen vermuten lassen.
— Vorsicht ist sowohl in dem einen wie in dem
andern Fall, besonders aber dort geboten, wo
zwei oder mehrere Prätendenten um die Herrschaft
streiten. Bis zur Austragung der inneren staats-
rechtlichen Wirren wird ein offizieller Verkehr nicht
stattfinden können, ebenso nicht der Abschluß von
Staatsverträgen. Die bereits bestehenden Ver-
träge bleiben provisorisch in Wirksamkeit und
ebenso die Schutzverhältnisse, welche auf dem Ge-
wohnheitsrecht und der Billigkeitspraxis beruhen.
Als Rechtspersönlichkeiten sind alle unab-
hängigen Staaten einander gleich; was aber ihr
Rangverhältnis und ihre Ehrenrechte betrifft, so
sind diesfalls Überlieferung, Machtstellung und
Übereinkommen (Wiener Rangreglement 1814, die
Aachener Beschlüsse 1818) nicht ohne Einfluß ge-
blieben. Zur Erhöhung der Rangstellung und
des Titels bedarf es mindestens der Anerkennung
jener Staaten, mit denen der die Veränderung