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gelöst von Heimat und heimatlicher Sitte, in den
Städten und Industriezentren zusammenströmt,
die Zusammendrängung derselben in enge Woh-
nungen, die den Bedürfnissen der Gesundheit und
des Familienlebens bei weitem nicht genügen, der
Mangel eines eigenen Heims, die Gefahren des
Kostgängerwesens, der Geist der Aufklärung und
Auflehnung, welcher im Zug der Zeit liegt und
vor allem in den Städten propagiert wird —
das alles sind Gefahren für Glauben und Sitt-
lichkeit, die um so größer sind, als die kirchliche
Seelsorge mit dem Anwachsen der Bevölkerung
nicht gleichen Schritt hält. Diese Gefahren der
Großstadt werden noch gesteigert durch die
Arbeiterfrage.
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menschlichen Individualität erscheint. Der Auf-
enthalt in mit Staub und Olgeruch geschwängerter
Luft, die Hitze im Sommer und Winter (Gas-
beleuchtung), der Lärm der Maschinen, die oft
übermäßig lange Arbeitszeit wirken in der gleichen
Richtung. Es ist physiologisch und psychologisch
begreiflich, wenn Unsittlichkeit und Trunksucht
wachsen. — Die Bedienung der Maschine erfordert
mehr Aufmerksamkeit und Gewandtheit als Körper-
kraft und Vorbildung. Weibliche und jugendliche
Arbeiter tun deshalb vielfach dieselben, oft bessere
Dienste als Männer; jedenfalls sind sie billiger.
So werden die erwachsenen Männer — Familien-
väter — durch weibliche und jugendliche Arbeiter
3. Konzentration der verschiedenen verdrängt. Dies führt einerseits zu einer Her-
Geschlechter und Lebensalter in der Fa- abdrückung der Löhne, anderseits aber bietet der
brik —Lostrennung derselben vom häus= verhältnismäßig reichliche Verdienst der Kinder
lichen Herd. Während auf dem Bauernhof und eine große Verlockung zur Auflehnung gegen die
in der Werkstatt die Familiengemeinschaft gewahrt elterliche Autorität und Disziplin. Oft genug
bleibt und auch Knechte und Mägde bzw. Gesellen lösen die Kinder das Verhältnis zu den Eltern,
und Lehrlinge den Schutz der Familiengemeinschaft geben ihnen Kostgeld oder verlassen das Eltern-
genießen, löst die Fabrik für die Dauer des Arbeits= haus, um ein Kosthaus zu beziehen. Damit ist
tags die Familiengemeinschaft auf. Vater und natürlich wieder der sittlichen Verführung Tür
Kinder arbeiten meist in verschiedenen Fabriken; und Tor geöffnet. Vergnügungssucht, frühe An-
morgens früh gehen sie von Hause fort, und abends knüpfung eines Verhältnisses, frühe leichtsinnige
spät treffen sie wieder am häuslichen Herd zu-
sammen. Im günstigsten Fall ist ihnen in der
kurzen Mittagspause vergönnt, das Essen in Eile
zusammen zu genießen. Vielleicht geht auch so-
gar die Mutter in die Fabrik, so daß das häus-
liche Leben am Tag vollends aufgelöst erscheint.
Anderseits strömen in der Fabrik alle möglichen
Elemente zusammen, Männer und Frauen, Jüng-
linge und Erwachsene, meist ohne jede sittliche
Aufsicht, ohne Schutz gegen böses Beispiel und
Verführung. Oft genug sind es gerade die Meister
und Angestellten, welche durch schamlose Reden,
durch Beispiel und Verführung der Unsittlichkeit
Vorschub leisten. Die meisten Fabrikanten küm-
mern sich nicht um diese Dinge, sind sich der
sittlichen Verantwortung für das, was in „ihrer"
Heiraten, mit Schulden begonnen, sind die
Folge. Aber wenn es auch zur vollen Trennung
nicht kommt: das Gefühl der materiellen Unab-
hängigkeit seitens der Kinder die Furcht der
Eltern, die Unterstützung der Kinder zu verlieren,
machen eine strenge häusliche Erziehung und Ord-
nung unmöglich, und so ist es nicht zu verwun-
dern, wenn Zuchtlosigkeit und Vergnügungssucht
wachsen und das Familienleben reißend im Nieder-
gang ist. Lieblose Söhne und Töchter, welche
nicht im Elternhaus Familiensinn und Ordnung
gelernt haben, werden natürlich schlechte Väter
und Mütter. Dazu kommt, daß die berufsmäßige
Fabrikbeschäftigung der Arbeiterinnen den Sinn
für die Arbeiten und Sorgen des Hauses, die Liebe
für die Häuslichkeit erstickt. Der Schwerpunkt
Fabrik vorkommt, wenig bewußt. Die einfachsten ihres Lebens liegt in der Fabrik, nicht im Haus.
Vorsichtsmaßregeln bei Anstellung der Meister Es bietet sich auch keine Zeit und kein Anlaß, sich
und Beamten, bei Einrichtung und Disposition in den häuslichen Arbeiten zu üben. Die Mutter
der Fabrikräume (Trennung der Geschlechter, An= versteht meistens wenig vom Haushalten, andere
lage der Aborte usw.) werden außer acht gelassen. Gelegenheit ist schwer zugänglich. So tritt die
— Dazu kommt noch ein weiteres Moment, die Arbeiterin in die Ehe ohne die elementarsten
4. Verdrängung der menschlichen Kenntnisse zur Führung eines Haushalts. Sie
Arbeitskraft durch die Maschine — Er= versteht nicht zu kochen, der Haushalt verkommt
satz der Arbeitskraft des Mannes durch in Unordnung und Schmutz; die Kinder entbehren
Frau und Kind —frühe Selbständig= der sorgsamen Pflege und Erziehung. Es fehlt
keit des Kindes. Die Fortschritte der Technik jeder Sinn kluger und umsichtiger Berechnung der
machen tagtäglich menschliche Arbeitskräfte über= Ausgoben. Der Mann sieht sich bitter enttäuscht.
flüssig, drücken die Bedeutung dieser herab. Damit Mit der Zahl der Kinder wächst die häusliche
geht die steigende mechanische Arbeitsteilung Hand Sorge, Krankheit, Not und Elend halten ihren
in Hand, so daß der Mensch immer mehr zu einem Einzug. Häuslicher Zwist macht das Leben
Appendix der Maschine wird. Die Arbeit ist eine vollends unerträglich. — So vererbt, so ver-
so einseitige, mechanische, daß Körper und Geist mehrt sich das Übel von Generation zu Gene-
dabei verkümmern müssen, und die Neigung zu ration; die „soziale Urzelle“ der Gesellschaft, die
Exzessen fast als natürliche Reaktion, als berech= Familie, ist im Zerfall. — Was speziell die
tigter Protest gegen diese Herabwürdigung der wirtschaftliche, materielle Seite der Arbeiterfrge