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(als Einkommensfrage) betrifft, so wirken vor
allem verhängnisvoll
5. Trennung von Konsument und
Produzent — Mangel an Übersicht
des Absatzmarktes — Überproduktion
und Krisen. Während der alte zünftige Hand-
werker für die „Kundschaft“ der Stadt und nächsten
Umgebung, und zwar sogar meist „auf Bestellung“
arbeitete, produziert der heutige Fabrikant für
den nationalen oder den Weltmarkt, und zwar
nicht direkt für die Konsumenten auf deren Be-
stellung, sondern für den Zwischenhandel. So
fehlen die direkten und dauernden Beziehungen,
die Fühlung zwischen Produzenten und Konfu-
menten; die Konsumenten wechseln, neue Produ-
zenten und Produkte treten auf den Markt. So
kann die Übersicht über den Markt und über die
Bedingungen der Konkurrenz leicht verloren gehen
und die Produktion auf falsche Wege geraten oder
auch den Absatz überholen, so daß eine Stauung
auf dem Warenmarkt entsteht und die Produktion
vorläufig einhalten muß. Diese Überproduktion
— über das Maß des Absatzes hinaus — ist um
so leichter möglich, als die Fortschritte der Technik
die Produktion fortdauernd steigern, so daß selbst
dann, wenn keine Vermehrung der Fabriken und
der Arbeiterzahl stattfände, bei wesentlich gleich-
bleibendem Absatzmarkt eine Überproduktion regel-
mäßig eintreten müßte. — Diese Absatzkrisen
werden verschärft durch die Kreditkrisen. Die
meisten Unternehmungen arbeiten mit Leihkapital;
fast alle geben und nehmen Kredit. Sobald nun
eine Überfüllung des Marktes sich geltend macht,
das Angebot die Nachfrage überholt, sinken die
Preise, die Rohprodukte werden entwertet, der
Gewinn, die Rentabilität des Geschäfts mindert
sich und damit „der Kredit“ — das Vertrauen
in den Bestand und die Zahlungsfähigkeit des
Geschäfts. So wird das Kapital, soweit möglich,
gekündigt und nur spärlich gegeben. Anderseits
aber bedürfen die Geschäfte, wenn sie „auf Lager“
arbeiten müssen, weit mehr Betriebskapital wie
vorher. So müssen dann Verlegenheiten entstehen,
und die Panik vermehrt das Übel noch über das
wirkliche Maß hinaus. Es müssen um jeden Preis
Mittel flüssig gemacht werden; dies führt wieder
zu Schleuderpreisen. So brechen die weniger gut
fundierten Geschäfte, welche auf den Kredit an-
gewiesen sind, meistens zusammen, während die
großen, kapitalkräftigen Unternehmungen, welche
diese wirtschaftlichen Stürme bestehen, nachher so-
gar unter viel günstigeren Bedingungen wieder in
die volle Produktion eintreten können. So wirken
die wirtschaftlichen Krisen wieder auf eine weitere
Konzentration der Produktion hin. — Diese
Produktionskrisen sind der Schrecken der modernen
Gesellschaft. Mit der Erweiterung des Absatz-
markts, den Fortschritten der Wissenschaft und
Technik, der gesteigerten Bedeutung des Kredits
nehmen sie an Umfang und Intensivität zu. Die-
selben treffen zunächst die Unternehmer und haben
Arbeiterfrage.
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den Zusammenbruch zahlreicher Geschäfte und —
eine weitere Konzentration der Betriebe und des
Kapitalbesitzes zur Folge. In zweiter Reihe aber
sind es die Arbeiter, welche in ihrer Gesamtheit
noch viel empfindlicher getroffen werden durch
Arbeitslosigkeit, Reduktion der Arbeitszeit und
Arbeitslöhne usw. — Mit den wirtschaftlichen
Konjunkturen, dem Wechsel von Aufschwung und
Krise wechseln auch im Leben der Arbeiter (relativer)
Überfluß und bitteres Elend. Statt in den guten
Zeiten zu sparen für die Tage der Not, wird die
Lebenshaltung gesteigert, wird oft genug auch
alles dem Leichtsinn und der Vergnügungssucht
geopfert. So wirkt diese Unstetigkeit der wirt-
schaftlichen Lage auch auf Familienleben und Sitt-
lichkeit höchst verderblich. — Die technischen Fort-
schritte der Produktion müssen notwendig zur
Überproduktion führen, soweit nicht die Aufnahme-
fähigkeit des Absatzmarktes in gleichem Maß
wächst. Der Absatz wird bestimmt durch die Kauf-
lust und die Kaufkraft der Konsumenten. Letztere
ist der entscheidende Faktor. Von einer Über-
produktion über das Maß der Bedürfnisse hinaus
kann kaum jemals die Rede sein, es fehlt nur die
Kaufkraft. Und nun ist es wiederum ein Ver-
hängnis der modernen Entwicklung, daß der relative
Anteil der Arbeiter mit den Fortschritten der Pro-
duktion zunächst nicht wächst, sondern fällt. Der
Löwenanteil fällt dem Kapital zu, und die Fort-
schritte der Produktion kommen nur allmählich
insoweit den Arbeitern zugut, als die Produkte
billiger werden. — Der Lohn steigt nicht bloß
nicht im Verhältnis zum Unternehmer= bzw. Ka-
pitalgewinn, sondern hat sogar die Tendenz zu
fallen; derselbe bleibt nach dem sog. „ehernen
Lohngesetz“ „stets auf die durchschnittlich und ge-
wohnheitsmäßig zur Existenz und Fortpflanzung
notwendige Lebensnotdurft beschränkt“. Lassalle
hat zuerst mit allem Nachdruck auf dieses von
Ricardo aufgestellte Gesetz, welches „die besitzende
Klasse und ihre Wissenschaft wie ein Geheimnis
der Ceres bewahrten“, hingewiesen, es „den Ar-
beitern verraten“ — die
6. Stellung der Arbeit als „Ware“
— das eherne Lohngesetz“. Arbeiter und
Arbeitgeber stehen sich in der heutigen Gesellschaft
wie Käufer und Verkäufer gegenüber. Arbeiter
und Arbeitgeber treten in freiem Arbeitsvertrag
zusammen, und der Inhalt der freien Verein-
barung bildet allein den Umfang der gegenseitigen
rechtlichen Gebundenheit. Auch der „Preis“ der
Arbeitskraft bzw. leistung richtet sich wesentlich
nach denselben Gesetzen von Angebot und Nach-
frage wie der Austausch der Werte auf dem Waren-
markt. Nun sind zwar Arbeitgeber und Arbeiter
trotz der formalen gesetzlichen „Freiheit“ materiell
in gleicher Weise aufeinander angewiesen wie
Käufer und Verkäufer; aber die Zwangslage des
Arbeiters ist tatsächlich doch viel dringlicher als
die des Arbeitgebers. Zunächst ist der Arbeiter fast
regelmäßig auf seinen Tagesverdienst angewiesen.