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manität, der christlichen Brüderlichkeit, mächtig IV. Mittel und Wege zur „Tösung"“ der
die Geister ergriffen. Alles, was Menschenantlitz Arbeiterfrage. So mannigsach die Ursachen
trägt, soll zu einer menschenwürdigen Lebenshal-= („Elemente“") der Arbeiterfrage sind, so mannig-
tung emporgehoben werden. In jedem Menschen faltig sind auch die Mittel und Wege, welche die
erblicken wir das Ebenbild Gottes. Die Aus= „Frage“ ihrer „Lösung“ näherführen. Eine
gestaltung dieses Ebenbildes, auch im letzten Ar= adäquate Lösung gibt es nicht, noch weniger
beiter, ist das hohe Ziel, das unsern Geist er= ein Allheilmittel der Lösung. Es handelt sich
hebt und unsern Willen anspornt. Die Idee der auch nicht wesentlich um neue, noch zu findende
Freiheit und Gleichheit hat seit der französischen Mittel und Wege, sondern die Mittel sind schon
Revolution in der politischen Ordnung ihren mehr oder weniger in Wirksamkeit, die Wege wer-
Siegeszug durch die ganze Kulturwelt angetreten, den schon gegangen, und es gilt nur, mit klarer
wir stehen unter ihrem Bann. Mit Schmerz Erkenntnis und energischem Willen die Mittel und
gewahren wir, wie weit wir in der sozialen Ord= Wege fortzusetzen.
nung von diesem Ziel noch entfernt sind. Dieser 1. Was die Konzentration der Pro-
Gedanke hat vor allem auch unsere Arbeiterwelt duktion und des Kapitals anlangt, so geht
ergriffen. Die Sozialdemokratie schürt die Flumme diese Entwicklung doch tatsächlich nicht so allge-
des Hasses und der Rache ob der vorenthaltenen mein und schnell, als bisher angenommen wurde.
Rechte. So begreifen wir, daß die heutige Ar-
beiterfrage, an solch hohen Idealen gemessen, eine
ganz andere Bedeutung hat, wie in allen ver-
gangenen Jahrhunderten. Das ist zugleich das
Erfreuliche, das Begeisternde und Erhebende in der
heutigen Arbeiterfrage: sie reicht weit über die
kleinen wirtschaftlichen und politischen Kämpfe
vergangener Jahrhunderte hinaus. Auch der Ar-
beiterstand soll als ein gleichberechtigter, mit den
höchsten Idealen erfüllter Stand den andern an
die Seite treten, dem Gesellschaftsorganismus
vollwertig eingegliedert werden.
Aber ist dieses Ideal nicht zu hoch? Reichen
unsere Kräfte für solch hohe Ziele aus? Damit
kommen wir zu der zweiten erhebenden Seite der
heutigen Arbeiterfrage: die gewaltigen Fort-
schritte der Technik und der Wissenschaft bieten
uns die Mittel für so hohe Ziele. Ein Weiser des
griechischen Altertums hat gemeint: Wenn einmal
die Webschiffchen von selbst laufen, dann werde die
Erlösung und Erhebung der Menschheit zu para-
diesischen Zuständen möglich sein. Dieses Ziel ist
nahezu erreicht. Unsere gewaltigen Kraft= und
Arbeitsmaschinen leisten die Arbeit von Millionen!
Sklavenhänden. Die Wissenschaft erschließt uns
tagtäglich neue Methoden, der Erde Nahrung,
Nur die zwerghaften Alleinbetriebe haben z. B.
von 1882 bis 1895 abgenommen, die Klein= und
Mittelbetriebe sind gewachsen an Zahl und Be-
deutung. Die Großbetriebe bilden sich und wachsen
allmählich, so daß Arbeitgeber und Arbeiter sich
l recht wohl organisch in die neuen Verhältnisse ein-
leben können. Freilich, die neuen Betriebsformen
fordern neue Organisationsformen des Verkehrs
1 und gegenseitiger Fühlung — Arbeiteraus-
schüsse; die steigende Abhängigkeit der einzelnen
Arbeiter bedarf des Ausgleichs durch Organisation
der Arbeiter in Gewerkschaften. Der Gegen-
satz von Arbeiter und Arbeitgeber und ihrer Or-
ganisationen muß lebhafter zum Bewußtsein und
zur Ausgestaltung kommen; aber auch die Soli-
darität der Interessen wird sich bald wieder Gel-
tung verschaffen — eventuell in beiderseitigen Ver-
lusten und Schädigungen (bei Streiks usw.) —
und zur gemeinsamen Schaffung von Ausgleichs-
und Einigungsämtern führen. Wenn der
Löwenanteil des Gewinns der Produktionsfort-
schritte auch zunächst dem „Kapital“ zufließt, so
ist es doch auch den Arbeitern, gestützt durch eine
systematische Arbeiterwohlfahrtspolitik
— insbesondere durch eine umsichtige Fortfüh-
rung der Arbeiterschutz= und Versicherungsgesetz-
Wärme, Kraft zu entnehmen, die Naturkräfte gebung usw. —, gestärkt durch ihre eigenen Or-
uns dienstbar zu machen. Die wachsenden Ver= ganisationen, gelungen, auch ihren Anteil an dem
kehrsmittel führen uns tagtäglich neue, ungehobene wirtschaftlichen Fortschritt stetig zu erhöhen. Dabei
Schätze ferner Weltteile zu. So ist bereits die
Masse der Güter gewaltig gestiegen, und die Pro-
duktionskräfte wachsen stetig an. Wir ersticken
schon im Uberfluß — so könnte man fast aus den
immer wiederkehrenden Absatzkrisen schließen. Es,
gilt, neben den Fortschritten der Produktion einer
zweckmäßigeren Ordnung derselben und vor allem
einer demokratischeren Verteilung zwischen Kapi-
tal und Arbeit die Wege zu ebnen. Es gilt, die
wirtschaftlichen Fortschritte auch für die geistig-
kulturelle Hebung unseres Volkes wirksamer und
zielbewußter auszunutzen und so die Arbeiter zu
befähigen, auch ein wertvolles Element für das
politische, soziale und geistige Leben unseres Volkes
zu bilden.
bleibt es zugleich Aufgabe einer umsichtigen Sozial-
politik, die bestehenden Klein= und Mittelbetriebe
durch Bildung von gesetzlichen Organisationen
und Genossenschaften, durch Vermittlung billiger
Kraft= und Arbeitsmaschinen (mittels Elektrizität
und Gas) usw. in dem Konkurrenzkampf tunlichst
zu stärken. Zugleich ist die Hoffnung gegeben,
daß aus dem Arbeiterstand sich ein neuer Mittel-
stand emporringt, der zwar des großen Gutes der
Selbständigkeit ermangelt, dafür aber den Beweis
sittlicher Kraft und Tüchtigkeit im Kampf ums
Dasein erbracht hat. Endlich bedeutet eine Kon-
zentration der Betriebe noch nicht notwendig eine
Konzentration des Kapitals; vielmehr ermöglichen
Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter