Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

287 Arbeiterfrage. 288 
manität, der christlichen Brüderlichkeit, mächtig IV. Mittel und Wege zur „Tösung"“ der 
die Geister ergriffen. Alles, was Menschenantlitz Arbeiterfrage. So mannigsach die Ursachen 
trägt, soll zu einer menschenwürdigen Lebenshal-= („Elemente“") der Arbeiterfrage sind, so mannig- 
tung emporgehoben werden. In jedem Menschen faltig sind auch die Mittel und Wege, welche die 
erblicken wir das Ebenbild Gottes. Die Aus= „Frage“ ihrer „Lösung“ näherführen. Eine 
gestaltung dieses Ebenbildes, auch im letzten Ar= adäquate Lösung gibt es nicht, noch weniger 
beiter, ist das hohe Ziel, das unsern Geist er= ein Allheilmittel der Lösung. Es handelt sich 
hebt und unsern Willen anspornt. Die Idee der auch nicht wesentlich um neue, noch zu findende 
Freiheit und Gleichheit hat seit der französischen Mittel und Wege, sondern die Mittel sind schon 
Revolution in der politischen Ordnung ihren mehr oder weniger in Wirksamkeit, die Wege wer- 
Siegeszug durch die ganze Kulturwelt angetreten, den schon gegangen, und es gilt nur, mit klarer 
wir stehen unter ihrem Bann. Mit Schmerz Erkenntnis und energischem Willen die Mittel und 
gewahren wir, wie weit wir in der sozialen Ord= Wege fortzusetzen. 
nung von diesem Ziel noch entfernt sind. Dieser 1. Was die Konzentration der Pro- 
Gedanke hat vor allem auch unsere Arbeiterwelt duktion und des Kapitals anlangt, so geht 
ergriffen. Die Sozialdemokratie schürt die Flumme diese Entwicklung doch tatsächlich nicht so allge- 
des Hasses und der Rache ob der vorenthaltenen mein und schnell, als bisher angenommen wurde. 
  
Rechte. So begreifen wir, daß die heutige Ar- 
beiterfrage, an solch hohen Idealen gemessen, eine 
ganz andere Bedeutung hat, wie in allen ver- 
gangenen Jahrhunderten. Das ist zugleich das 
Erfreuliche, das Begeisternde und Erhebende in der 
heutigen Arbeiterfrage: sie reicht weit über die 
kleinen wirtschaftlichen und politischen Kämpfe 
vergangener Jahrhunderte hinaus. Auch der Ar- 
beiterstand soll als ein gleichberechtigter, mit den 
höchsten Idealen erfüllter Stand den andern an 
die Seite treten, dem Gesellschaftsorganismus 
vollwertig eingegliedert werden. 
Aber ist dieses Ideal nicht zu hoch? Reichen 
unsere Kräfte für solch hohe Ziele aus? Damit 
kommen wir zu der zweiten erhebenden Seite der 
heutigen Arbeiterfrage: die gewaltigen Fort- 
schritte der Technik und der Wissenschaft bieten 
uns die Mittel für so hohe Ziele. Ein Weiser des 
griechischen Altertums hat gemeint: Wenn einmal 
die Webschiffchen von selbst laufen, dann werde die 
Erlösung und Erhebung der Menschheit zu para- 
diesischen Zuständen möglich sein. Dieses Ziel ist 
nahezu erreicht. Unsere gewaltigen Kraft= und 
Arbeitsmaschinen leisten die Arbeit von Millionen! 
Sklavenhänden. Die Wissenschaft erschließt uns 
tagtäglich neue Methoden, der Erde Nahrung, 
  
Nur die zwerghaften Alleinbetriebe haben z. B. 
von 1882 bis 1895 abgenommen, die Klein= und 
Mittelbetriebe sind gewachsen an Zahl und Be- 
deutung. Die Großbetriebe bilden sich und wachsen 
allmählich, so daß Arbeitgeber und Arbeiter sich 
l recht wohl organisch in die neuen Verhältnisse ein- 
leben können. Freilich, die neuen Betriebsformen 
fordern neue Organisationsformen des Verkehrs 
1 und gegenseitiger Fühlung — Arbeiteraus- 
schüsse; die steigende Abhängigkeit der einzelnen 
Arbeiter bedarf des Ausgleichs durch Organisation 
der Arbeiter in Gewerkschaften. Der Gegen- 
satz von Arbeiter und Arbeitgeber und ihrer Or- 
ganisationen muß lebhafter zum Bewußtsein und 
zur Ausgestaltung kommen; aber auch die Soli- 
darität der Interessen wird sich bald wieder Gel- 
tung verschaffen — eventuell in beiderseitigen Ver- 
lusten und Schädigungen (bei Streiks usw.) — 
und zur gemeinsamen Schaffung von Ausgleichs- 
und Einigungsämtern führen. Wenn der 
Löwenanteil des Gewinns der Produktionsfort- 
schritte auch zunächst dem „Kapital“ zufließt, so 
ist es doch auch den Arbeitern, gestützt durch eine 
systematische Arbeiterwohlfahrtspolitik 
— insbesondere durch eine umsichtige Fortfüh- 
rung der Arbeiterschutz= und Versicherungsgesetz- 
  
Wärme, Kraft zu entnehmen, die Naturkräfte gebung usw. —, gestärkt durch ihre eigenen Or- 
uns dienstbar zu machen. Die wachsenden Ver= ganisationen, gelungen, auch ihren Anteil an dem 
kehrsmittel führen uns tagtäglich neue, ungehobene wirtschaftlichen Fortschritt stetig zu erhöhen. Dabei 
Schätze ferner Weltteile zu. So ist bereits die 
Masse der Güter gewaltig gestiegen, und die Pro- 
duktionskräfte wachsen stetig an. Wir ersticken 
schon im Uberfluß — so könnte man fast aus den 
immer wiederkehrenden Absatzkrisen schließen. Es, 
gilt, neben den Fortschritten der Produktion einer 
zweckmäßigeren Ordnung derselben und vor allem 
einer demokratischeren Verteilung zwischen Kapi- 
tal und Arbeit die Wege zu ebnen. Es gilt, die 
wirtschaftlichen Fortschritte auch für die geistig- 
kulturelle Hebung unseres Volkes wirksamer und 
zielbewußter auszunutzen und so die Arbeiter zu 
befähigen, auch ein wertvolles Element für das 
politische, soziale und geistige Leben unseres Volkes 
zu bilden. 
bleibt es zugleich Aufgabe einer umsichtigen Sozial- 
politik, die bestehenden Klein= und Mittelbetriebe 
durch Bildung von gesetzlichen Organisationen 
und Genossenschaften, durch Vermittlung billiger 
Kraft= und Arbeitsmaschinen (mittels Elektrizität 
und Gas) usw. in dem Konkurrenzkampf tunlichst 
zu stärken. Zugleich ist die Hoffnung gegeben, 
daß aus dem Arbeiterstand sich ein neuer Mittel- 
stand emporringt, der zwar des großen Gutes der 
Selbständigkeit ermangelt, dafür aber den Beweis 
sittlicher Kraft und Tüchtigkeit im Kampf ums 
Dasein erbracht hat. Endlich bedeutet eine Kon- 
zentration der Betriebe noch nicht notwendig eine 
Konzentration des Kapitals; vielmehr ermöglichen 
Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter 
 
	        
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