Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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andere Gewerbszweige sehr zu erleichtern. Durch 
einen systematischen Ausbau der Arbeits- 
nachweise kann dieses Ziel noch wirksamer 
gesichert werden. Selbst die Versicherung 
gegen Arbeitslosigkeit erscheint als ein 
lösbares Problem. 
6. Die ungünstige Stellung der Arbeit als 
„Ware“ auf dem Arbeitsmarkt wird ausgeglichen 
durch die gewaltige Entwicklung unserer 
Industrie. Das Kapital und sein Anlage- 
bedürfnis ist noch stärker gewachsen als die arbei- 
tende Bevölkerung; die Nachfrage nach Arbeits- 
kräften war so im Durchschnitt stärker als das 
Angebot, und die Löhne sind stetig gestiegen. 
Und dies nicht bloß absolut, sondern auch in ihrer 
Kaufkraft. Fremde Weltteile ergänzen die Pro- 
duktion des heimischen Bodens, ja bieten dieser 
eine preisdrückende Konkurrenz. Durch einen 
umfassenden Import von Nahrungsmitteln 
und Rohstoffen und Export von Industrie- 
produkten wird das eherne Lohngesetz und 
die Malthussche Bevölkerungstheorie vollständig 
paralysiert. — Ist so die Lage der Arbeiter als 
Klasse nicht ungünstiger, sondern günstiger ge- 
worden, so bleibt allerdings noch die schwächere 
Stellung des einzelnen (besonders des verheirateten) 
Arbeiters gegenüber seinem Arbeitgeber. Auch 
diese kann gehoben werden durch den Zusammen- 
schluß in gewerkvereinlichen Organisa- 
tionen. Die individuelle Reglung des Ar- 
beitsvertrags und des Lohns kann ersetzt werden 
durch die kollektive der Berufsorganisationen 
(„Tarifverträge"); das Arbeitsangebot kann auf 
Zeit zurückgehalten werden („Streik"), der Ar- 
beitsmarkt kann ausgeglichen werden, indem Ar- 
beiter von den Punkten, an denen ein Überangebot 
von Arbeitskräften besteht und deshalb ein Lohn- 
druck droht, nach andern Punkten dirigiert werden 
(durch Reiseunterstützung usw.), wo Arbeit sich 
reichlicher bietet. Arbeitslose können auf Zeit aus 
der Gewerkvereinskasse unterstützt werden, damit 
sie nicht durch ihr Angebot die Löhne drücken. So 
haben die Gewerkvereine in England tatsächlich 
den Arbeitern eine angesehene, wirtschaftlich ge- 
hobene und selbständige Stellung errungen. 
7. Der Gefährdung der persönlichen 
Güter, von Leben, Gesundheit und Sittlichkeit, 
können und sollen durch eine umfassende Arbeiter- 
schutzgesetzgebung Schranken gesetzt werden. 
Die Organisationen der Arbeiter können diese Be- 
strebungen: Verkürzung der Arbeitszeit, Schutz- 
vorrichtungen usw. durch ihren Einfluß und ihre 
Macht ergänzen. 
Wenn wir die bisherigen Ausführungen über- 
blicken, so find in den Bestrebungen zur „Lösung“ 
der Arbeiterfrage zu unterscheiden: Maßnahmen 
allgemeiner Art und solche Maßnahmen, die 
speziell den Schutz und die Hebung der Arbeiter 
bezwecken. Als Maßnahmen allgemeiner Art 
können gelten: eine wohlabwägende Handels- 
Arbeiterfrage. 
  
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politik, die den tunlichsten Schutz der heimischen 
Produktion mit der wirksamsten Förderung des 
Exports zu verbinden weiß; Gewinnung von Ko- 
lonien und Hebung des inneren (Kanäle usw.) 
und des Weltverkehrs (Dampfersubventionen) usw. 
Alle diese Maßnahmen dienen in erster Linie den 
Unternehmern (Arbeitgebern), kommen damit aber 
weiterhin auch den Arbeitern zugut. Mit diesen 
müssen sich aber verbinden spezielle Fürsorge- 
maßnahmen für die Arbeiter direkt. Als Haupt- 
aufgaben ergeben sich hier: 1) Schutz der persön- 
lichen Güter — Arbeiterschutzgesetz- 
gebung — und Stärkung des einzelnen durch 
den organisierten Stand — Arbeiterorgani- 
sation; 2) Sicherung eines stetigen, dauernden 
Einkommens — Arbeiterversicherungs- 
gesetzgebung; 3) Hebung und Ver- 
edlung der Lebenshaltung: Fürsorge für 
gute Wohnungen, Erziehung zur Sparsamkeit, 
Förderung der Bildung usw. 
Während die Maßnahmen des Arbeiterschutzes 
und der Versicherung in erster Linie sich als Auf- 
gaben des Staats bzw. der staatlichen Gesetz- 
gebung und Verwaltung darstellen, liegen die 
übrigen Aufgaben mehr auf dem Gebiet der freien 
Privatinitiative, sei es der Arbeiter selbst und 
ihrer Vereine, sei es der Arbeitgeber und Besitzen- 
den, unter wohlwollender Mitwirkung von Staat 
und Gemeinde. 
V. Statistik. 1. Umfang. Die Zahl der Ar- 
beiter (c) in den verschiedenen Berufsabteilungen 
nach der Berufszählung von 1895 ergibt die Ta- 
belle auf Sp. 293,94 oben. a umfaßt hier die 
Selbständigen, auch leitende Beamte und sonstige 
Geschäftsleiter (Eigentümer, Inhaber, Besitzer, 
Mitinhaber oder Mitbesitzer [Kompagnonss, Päch- 
ter, Erbpächter, Handwerksmeister, Unternehmer, 
Direktoren, Administratoren); afr selbständige 
Gewerbetreibende, die in der eigenen Wohnung 
für ein fremdes Geschäft, zu Haus für fremde 
Rechnung arbeiten; b das wissenschaftlich, tech- 
nisch oder kaufmännisch gebildete Verwaltungs-, 
Aufsichts= und Bureaupersonal; c sonstige Ge- 
hilfen, Lehrlinge, Fabrik-, Lohn= und Tagear- 
beiter; cfr Gehilfen, Lehrlinge, Arbeiter bei Haus- 
industriellen (afr). 
2. Statistikder Einkommensteuer in 
Preußen. Wie die Ergebnisse der Einkommen- 
steuer in Preußen erweisen, muß die Hälfte der 
Bevölkerung mit einer Jahreseinnahme von weni- 
ger als 900 M auskommen. Wenn diese Verhält- 
nisse in den Städten auch wesentlich günstiger sind, 
indem hier schon über 60 % der Bevölkerung über 
900 'beziehen, so reicht doch zweifellos das Ein- 
kommen für breite Schichten unseres Volkes bei 
weitem nicht aus, um eine menschenwürdige Lebens- 
haltung zu führen. Insbesondere muß in Tau- 
senden kinderreicher Familien, in denen der Vater 
der einzige Ernährer ist, in weitem Umfang bittere 
Not herrschen. Wie aber weiter die Einkommen- 
steuerstatistik erweist, sind wir in einem erfreulichen 
Aufstieg begriffen. Nicht nur daß der Gesamtwohl- 
stand gewaltig gestiegen ist, auch der Anteil der 
unteren und mittleren Schichten ist stetig gewachsen. 
Dafür einige Belege. Die Zahl der physischen Per-
	        
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