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Schulen usw. geschaffen werden — gewiß eine ge= Kulturstaaten wiederkehrenden Erscheinung, daß die
waltige Aufgabe und eine ausreichende Erklärung Ehescheidungen in den kleineren Städten und auf
für alle die Probleme, welche wir unter der städti-dem platten Land erheblich seltener sind als in den
schen Wohnungsfrage zusammenfassen. Der städti. Großstädten, besonders hervor: „Hauptsächlich wird
sche Zuwachs wiederum ist vor allem den Groß= man das großstädtische Leben mit seinen größeren
städten zugut gekommen. Es kamen 1905 auf Land= sittlichen Gefahren, seinen weniger streng moralischen
städte (Gemeinden mit 2000/5000 Einw.) 7,1 Mill. Anschauungen und seinen vielfach ungünstigen Ein-
Einwohner, auf Kleinstädte (5000/20 000 Einw.) wirkungen auf das Familienleben — man denke
8,3 Mill, auf (208) Mittelstädte (20 000/100 000 / nur an das Schlafburschenwesen und Mietskasernen-
Einw.) 7 8 Mill. und endlich auf (41) Großstädte l tum — für die bedeutendere Scheidungshäufig-
(mit mehr als 100 000 Einw.) 11,5 Mill. Ein= keit der Großstädte verantwortlich machen müssen.
wohner. Im Jahr 1895 gab es erst 28 Eroßstädte Außerdem spielt natürlich auch die stärkere Bevöl-
mit 7,8 Mill. Einwohnern. kerungs- und Wohndichtigkeit der Großstädte in-
über die sittliche Einwirkung der Groß- sofern eine große Rolle, als sie, was namentlich für
städte gibt A. Weber in seiner anregenden Schrift die Häufigkeit des Ehebruchs von besonderer Bedeu-
„Die Großstadt und ihre sozialen Probleme"“ (1907) tung ist, die gegenseitige Annäherung der Personen
interessante Zahlen. So kamen auf 10 000 Personen sehr erleichtert. Begünstigt wird diese auch durch
der strafmündigen Zivilbevölkerung Verurteilte die ungleiche Verteilung der Geschlechter; in den
(als größere Städte solche mit 50000 Einwohnern Großstädten überwiegt nämlich zumeist das weib-
und mehr gerechnet) liche Geschlecht sehr erheblich.“
im Jahrfünft im Reich in den größeren Städten. Von den Fürsorgezöglingen sind über ein Zehntel
1883/87 101,1 129,0 Berliner Kinder. Die andern Großstädte stellen
1898/1902 120,9 152,4. weitere 25 %, dagegen sämtliche ländlichen Ge-
Von den im Jahr 1905 in Preußen retskträftig meinden nur 19,3% (Weber a. a. O. 13).
geschiedenen 6856 Ehen kamen 77,7% auf Diie Zahl der Kinder in den Ehen nimmt in den
die Städte und nur 22,3% auf das Land. Auf Großstädten in bedenklichem Maß ab. Auf 1000
je 10 000 bestehende Ehen entfielen in den Städten preußische Ehefrauen im Alter bis zu 50 Jahren
17,5, auf dem Land 4,3 Ehescheidungen. Dies ist zählte man im Jahresdurchschnitt 1899/1902 in
um so bemerkenswerter, als die Zahl der bestehen- Berlin 152 Geburten, in den andern Großstädten
den Ehen in den Städten (mit 45,9% ) erheblich ge= 224, in den Mittelstädten 236, in den Kleinstädten
ringer ist als auf dem Land GZeitschr. des kgl. preuß. 256, auf dem Land 287.
Statist. Landesamts 1907). — Auf die 28 Groß- Auf 100 000 Lebende kamen Selbstmorde
städte Preußens (mit 100 000 Einw. und mehr) 1905 auf Prauben 20,69, auf Berlin 35,18 (Weber
entfielen die Hälfte der Gesamtzahl der Eheschei- a. a. O. 1
dungen, auf Berlin allein ein Viertel (Weber a. 4. Salt 1 in Fabriken beschäftigten
O. 13). Der Verfasser der Zusammenstellung 4 in jugendlichen und weiblichen Arbeiter.
der Zeitschrift des preuß. Statist. Landesamts, Es wurden in den Fabriken und den gleichgestellten
Professor Dr Kuehnert, hebt als Grund der in allen Anlagen in Deutschland beschäftigt:
1888 1893 | 1698 1900 1902 1904 1906
Kinder lunger 14 Jahren) 2 913 5%1 N0 952# 807 9642C 10817
Junge Leute (von 24 bis 16 Jẽhren) 169252 213959276 336| 328 178r 316303 360 299 413651
Arbeiterinnen (über 16 Jahre) 616 545 764 548 833 691 860 0871 988 108 1095 899
Im ganzen 836 415 I Lois Ooe /I I II 1018. E¼N e % z S 4%
Die Zahlen sind nicht ganz vergleichbar, indem Arbeiterinnen, 39 866 junge Leute (davon 33544
die Gewerbeaufsicht allmählich ausgedehnt wurde. weiblich) und 1166 Kinder (davon 866 Mädchen)
So wurden 1892 das Baugewerbe, 1904 die Werk= beschäftigt. In Fabriken für Nahrungs= und Ge-
stätten der Kleider= und Wäschekonfektion ein= nußmittel wurden 376520 Männer, 139 686 er-
bezogen. Immerhin geben sie dankenswerte An= wachsene Arbeiterinnen, 34 389 junge Leute (davon
haltspunkte für unsere industrielle Entwicklung, 16 661 weiblich) und 919 Kinder (davon 539
Die Zahl der erwachsenen männlichen Arbeiter be= Mädchen) beschäftigt. (Vergl. Statist. Handbuch
trug 1903: 3818277, 1905: 4173522. Im ein= für das Deutsche Reich 1907 1 236; Vierteljahrs-
zelnen sei noch bemerkt: Infolge des Arbeiterschutz= hefte zur Statistik des Deutschen Reichs 1907 IV
gesetzes von 1891 sank die Zahl der Fabrikkinder 248, und „Statist. Jahrbuch“ verschiedene Jahr-
von 27 485 im Jahr 1890 auf 4259 im Jahr 1894. I gänge.) über die Verteilung der erwachsenen und
Dann stieg die Zahl wieder. Von den 10 847 jugendlichen Arbeiter beiderlei Geschlechts auf die
im Jahr 1906 beschäftigten Kindern waren 6228 verschiedenen Industrien im Deutschen Reich 1905
Knaben und 4619 Mädchen. Die Wirtschaftskrise gibt die Tabelle auf Sp. 297/98 Aufschluß.
von 1901 macht sich in dem Rückgang der jugend- 1 Bezüglich der Fabrikbeschäftigung verheira-
lichen Arbeiter bemerklich. Bei den „jungen Leuten“ teter Frauen haben im Jahr 1875 (vgl. Er-
waren 1906: 145 325 weibliche, 2683229 männliche. gebnisse der über die Frauen= und Kinderarbeit in
In der Textilindustrie kamen 1905 auf 364 635 er den Fabriken auf Beschluß des Bundesrats an-
wachsene männliche Arbeiter 386 263 erwachsene gestellten Erhebungen, zusammengestellt im Reichs-
Arbeiterinnen, 46 948 junge Mädchen (davon 1814 kanzleramt, Berlin 1877) und 1890 (Stenogr.
unter 14 Jahren) und 29220 Burschen unter Bericht über die Verhandlungen des Reichstags,
16 Jahren (davon 1109 unter 14 Jahren). In /I. Sess. 1890/91, II. Anlageband S. 1487 f) Er-
6(Belleidung und Reinigung“ wurden 1905 neben hebungen stattgefunden. Danach wurden gezählt
87 42 erwachsenen Männern 197 315 erwachsene 1875: 591925 (außer Elsaß-Lothringen), 1890: