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Protektorat betrachteten. Die italienische Schutz-
herrschaft wurde auch von Deutschland und Eng-
land anerkannt, von Frankreich aber und nament-
lich von Rußland, das in Abessinien eine eigene
Interessensphäre schaffen wollte, bekämpft. Als die
Italiener 1894 den Mahdi aus dem ihnen von den
Engländern überlassenen Posten Kassala vertrieben
hatten und sich der abessinischen Grenze näherten,
griff Menelik die Italiener an, wurde jedoch ge-
schlagen (1895). Die Italiener besetzen nun die
Provinz Tigre, das italienische Heer wurde aber
bei Adua (1. März 1896) von dem fünffach über-
legenen Gegner fast vollständig vernichtet. Im
Frieden von Addis Abeba (26. Okt. 1896) wurde
die Unabhängigkeit Abessiniens anerkannt, Italien
mußte sich mit dem Besitz eines Teils des früheren
Küstenstrichs begnügen (Kolonie Erythräa).
Durch europäische Ratgeber und ein modernen
Fortschritten zugängliches Regierungssystem brachte
Menelik sein Land auf eine nie erreichte Macht-
höhe. England, Frankreich und Italien, die als
Grenznachbarn Abessiniens einen überwiegenden
Einfluß besitzen, kamen durch ein Abkommen vom
13. Dez. 1906 überein, die Integrität des Landes
und die verschiedenen gegenseitigen Interessen in
den angrenzenden Gebieten zu achten; gleichzeitig
trafen sie Vereinbarungen über den Durchgangs-
verkehr, die Waffeneinfuhr usw. durch die einzelnen
Gebiete. Zwischen dem Deutschen Reich und Abes-
sinien besteht (vorläufig auf 10 Jahre) seit 1. März
1906 ein Handels= und Freundschaftsvertrag auf
der Grundlage der Meistbegünstigung.
2. Land und Volk. Der Flächeninhalt beträgt
etwa 800 000 qkm, die Bevölkerung wird (nach
Supan) auf 8 Mill., sonst geringer, z. T. sogar
nur auf etwa 4 Mill. geschätzt. Die ursprüngliche
Bevölkerung bilden hamitische Stämme, nament-
lich die sich zum Judentum bekennenden und des-
halb viel verfolgten Falascha, die vorwiegend im
Nordwesten (Semiengebirge) wohnen, aber als
fleißige Handwerker auch über das ganze Land
verstreut sind, und die nur noch vereinzelt ver-
tretenen heidnischen Agau, gleichfalls im Nord-
westen. Durch Einwanderung über das Rote
Meer traten zu diesem Grundstock in den letzten
Jahrhunderten vor Christus semitische Völker,
namentlich himjaritische Araber (die Geezvölker),
die sich dann zu Herren des Landes und zu Trä-
gern der Landeskultur machten und heute den sich
zum monophysitischen Christentum bekennenden
Kern des abessinischen Volks bilden. Von Süd-
westen her wanderten aus dem Innern Afrikas
seit dem 16. Jahrh. die einen Negertypus tragen-
den Gallavölker ein; erst Menelik ist es gelungen,
die als gewalttätig gefürchteten nomadisierenden
Galla zu friedlichen Bauern zu machen. Sie
nehmen unter der höheren Intelligenz und Bil-
dung der ritterlichen, aber arbeitsscheuen Abes-
sinier in der neuesten Zeit an der inneren Landes-
entwicklung bedeutenden Anteil, weil sie befähigt
sind, eine bodenständige, landwirtschaftlich wie ge-
Abessinien.
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werblich arbeitsame Bevölkerung zu bilden. Die
Galla sind jetzt zum großen Teil äußerlich zum
abessinischen Christentum übergetreten, stehen aber
innerlich noch im Bann ihrer heidnischen, vonchrist-
lichen Gedanken durchdrungenen Naturreligion.
Im Gebiet des alten Sultanats Adal (Harar)
wohnen einzelne der hamitischen, sich zum Islam
bekennenden Danakilstämme, die als Karawanen-
leute, Sklavenhändler, nomadisierende Viehzüch-
ter usw. tätig sind. — Infolge der vielen Volks-
stämme finden sich auch zahlreiche Sprachen und
Dialekte. Verkehrssprache ist das Arabische; im
Land wird jedoch am meisten, auch im Regierungs-
verkehr, das Amharische gesprochen. Die alte äthio-
pische Sprache (Geezsprache) findet nur noch in der
Liturgie Anwendung.
3. Verfassung. Abessinien ist das einzige Land
des schwarzen Erdteils, das sich völliger Unab-
hängigkeit erfreut. Das Land ist eine unumschränkte
Monarchie unter einem Negus Negesti („König der
Könige") und besteht aus zwei Hauptteilen, welche
die politische Verfassung streng voneinander schei-
det, nämlich aus dem alten Abessinien mit den
Ländern Tigre, Amhara, Godscham und Schoa,
sowie den im Süden und Osten liegenden, erst in
der neuesten Zeit eroberten Ländern Harar, Adal,
Ogaden, Kaffa usw. und den Gallaländern. Die
Verfassung und Verwaltung ist auf dem Lehns-
recht aufgebaut. Bestimmte Gebiete (Königreiche
oder Provinzen) sind einem vom Negus ernannten
Ras („Statthalter") unterstellt. Die Ras sind freie
Herren ihres Landes, sie ernennen die Beamten,
setzen die Steuern fest usw.; dem Negus haben sie
nur den auf ihr Land fallenden Anteil an Sol-
daten zu stellen und einen bestimmten, zum größ-
ten Teil aus Naturalien bestehenden Tribut zu
zahlen. Die eroberten Gebiete, die auch höhere
Abgaben entrichten, müssen auf kaiserlichen Be-
fehl Arbeiter der dort ansässigen Stämme kosten-
los stellen. Ein Ministerium nach europäischem
Muster wurde von Menelik 1907 geschaffen.
Die rechtliche Grundlage des Zivilrechts bildet
teilweise der Codex lustinianus. Im Strafrecht
besteht für Bagatellsachen, Körperverletzung, Dieb-
stahl usw. die freie Richterwahl (Dania). Strei-
tende Karawanenleute (Nagadis) haben ihren
Richter im Nagaderas („Haupt der Kaufleute").
Die hohe Justiz (Schillot) ist Sache des Negus,
in den Provinzen auch der Ras. Der Negus be-
stellt einen Oberrichter (Afa-negus, „Mund des
Königs"). Geschworen wird beim Leben des Kai-
sers, deshalb ist der Falscheid gleichzeitig eine
Majestätsverletzung. Bei der gerichtlichen Unter-
suchung finden abergläubische Gebräuche Anwen-
dung. Das mündlich gesprochene Urteil ist sofort
rechtskräftig und wird meist auch sofort vollzogen;
nur Todesurteile unterliegen der kaiserlichen Be-
stätigung. Als schwere Leibesstrafen werden ver-
hängt grausames Auspeitschen mit der Nilpferd-
peitsche und Abschneiden von Hand oder Fuß.
Die Todesstrafe erfolgt durch Aufhängen (am ent-