Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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ohnehin schon schwer belasteten Industrie weitere 
Opfer aufzulegen. Man fürchtet namentlich für 
die Konkurrenzfähigkeit der kleinen Unternehmer. 
Es wird die Sorge laut, daß die ohnehin gedrückte 
Lebenshaltung der Arbeiter durch den Ausfall oder 
die Minderung des Verdienstes noch weiter herab- 
gedrückt wird. Es wird als unmöglich hingestellt, 
die Gesetze den Bedürfnissen der verschiedenen 
Industriezweige, der verschiedenen Gegenden, der 
individuellen Leistungsfähigkeit der Arbeiter usw. 
anzupassen. Die Fragen und Verhältnisseerscheinen 
noch nicht genügend klargelegt, und so verlangt 
man erst umfassende Enqueten, in denen nament- 
lich Arbeitgeber und Arbeiter zum Wort gelangen 
sollen. Anstatt einer gesetzlichen Reglung wird mehr 
die Reglung im Weg der Selbstverwaltung, durch 
die Berufsgenossenschaften und Innungen usw., 
vorgeschlagen. — Als notwendige Vorbedingung 
aller gesetzlichen Maßnahmen zugunsten der Ar- 
beiter erscheint vielen, daß wenigstens die hervor- 
ragenderen Industriestaaten gemeinsam vorgehen. 
Der einzelne Staat sei machtlos, würde jeden 
energischen Versuch einer Sozialreform mit Ver- 
lust seiner Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt 
einbüßen. Nur bei internationaler Reglung der 
Frage würde die Gesetzgebung auch auf die Preis- 
bildung der Arbeit und der Produkte zurückwirken. 
Man verweist auf die erfolgreichen Versuche inter- 
nationaler Reglung auf andern Gebieten — be- 
züglich der Kriegführung, des Verkehrs (Welt- 
postverein) usw. —, auf den internationalen Cha- 
rakter der Arbeiterbewegung, auf die wirtschaft- 
liche und politische Solidarität der Staaten, die 
auch zu einer Gemeinsamkeit der Gesetzgebung 
führen müsse. Der einzelne Staat sei gebunden 
an diese Solidarität, könne sich derselben nament- 
lich auf dem Gebiet der Arbeiterschutzgesetzgebung, 
solange und soweit das Wirtschaftsgebiet ein inter- 
nationales sei, nicht entziehen. 
3. Widerlegung. Alle diese praktischen 
Einwendungen und Schwierigkeiten legen ohne 
Zweifel eine gewisse Vorsicht und Zurückhaltung 
aus, berechtigen aber nicht zu einer ablehnenden 
Haltung. Die tatsächliche Entwicklung der Ge- 
setzgebung der verschiedenen Staaten und Länder 
hat dieselben auch bereits auf ihren wahren Wert 
zurückgeführt. Die praktischen Bedürfnisse des 
Lebens sind stärker gewesen als alle Theorien 
von „Freiheit“ und „Fortschritt". Die Miß- 
stände waren zu schreiend, als daß die Hände in 
den Schoß gelegt werden konnten. Auch „Ge- 
werkvereine“ und „Koalitionsfreiheit“ haben sich 
nirgends als ausreichend erwiesen, diese Mißstände 
zu beseitigen, die Arbeitervereinigungen haben 
vielmehr auch ihrerseits an die staatliche Gesetz- 
gebung appelliert. Allen praktischen Bedenken zum 
Trotz können wir als Tatsachen konstatieren: 
a) Alle Industriestaaten weisen eine mehr oder 
weniger ausgebildete Arbeiterschutzgesetzgebung auf. 
Gerade die Staaten, welche am meisten auf Frei- 
heit und „Selbstverwaltung“ halten, England, 
  
Arbeiterschutzgesetzgebung. 
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die Schweiz, die Vereinigten Staaten, haben 
ihre Arbeiterschutzgesetzgebung am weitesten aus- 
gebildet. b) Mit der Entwicklung der Industrie 
geht auch der weitere Ausbau der Arbeiterschutz- 
gesetzgebung Hand in Hand. Nirgends ist ein 
Stillstand oder ein Rückschritt zu verzeichnen, über- 
all drängen Arbeiter wie Arbeitgeber auf Erweite- 
rung der Gesetzgebung. Der Industriestaat par 
excellence, England, hat auch die älteste, aus- 
gebildetste Arbeiterschutzgesetzgebung. Und gerade 
in der englischen Textilindustrie, d. h. in dem Ge- 
werbe, in welchem der moderne Fabrikbetrieb seine 
erste Entwicklung fand, ist auch der prinzipielle 
Kampf um die gesetzliche Beschränkung der Herr- 
schaft des Arbeitgebers über das persönliche Leben 
der Arbeiter zuerst zum Austrag gekommen — 
ein Kampf, der im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrh. 
begann und an Großartigkeit sich mit den größten 
sozialen Kämpfen der Geschichte vergleichen läßt. 
Position für Position wurde erobert. Seit 1802 
weist fast jedes Jahrzehnt solche Gesetze auf. End- 
lich im Jahr 1847 errangen die Arbeiter mit dem 
Erlaß des Zehnstundengesetzes den vollen Sieg. 
1864 und 1867 wurden auch die andern Industrie- 
zweige einbezogen. In dem Fabrik= und Werk- 
stättengesetz vom 27. Mai 1878 wurden dann die 
sämtlichen zahlreichen Bestimmungen zum physi- 
schen und geistig-sittlichen Schutz der Arbeiter 
kodifiziert. Die zur Untersuchung der Fabrikgesetze 
und ihrer Wirkungen niedergesetzte königliche Kom- 
mission konnte am 10. Febr. 1876 als Resul= 
tat feststellen: „Die zahlreichen früheren Unter- 
suchungen über die Lage der in den verschiedenen 
Gewerben des Landes beschäftigten Kinder und 
Frauen enthüllten Zustände, welche das allgemeine 
Mitleid mächtig hervorriefen und das Einschreiten 
der Gesetzgebung gebieterisch verlangten. In auf- 
fälligem Gegensatz zu den in jenen Berichten ent- 
hüllten Verhältnissen ist die gegenwärtige Lage 
derjenigen, zu deren Gunsten die Fabrik= und Werk- 
stättengesetze erlassen wurden... Dabei haben wir 
keine Ursache zur Annahme, daß die Gesetzgebung, 
welche in so auffälliger Weise sich als Wohltat für 
die beschäftigten Arbeiter erwiesen hat, den Ge- 
werben, auf die sie Anwendung fand, irgend er- 
heblichen Nachteil gebracht hat. Im Gegenteil, 
der Fortschritt der Industrie war augenscheinlich 
völlig unbehindert durch die Fabrikgesetze; und es 
gibt nur wenige, selbst unter den Arbeitgebern, 
welche jetzt einen Widerruf der Hauptbestimmungen 
dieser Gesetze wünschten oder welche die aus diesen 
Gesetzen hervorgegangenen Wohltaten leugneten“ 
(Schönberg, Handb. der polit. Okonomie 11 972). 
Dem Beispiel Englands sind dann alle Kultur- 
staaten gefolgt: die Schweiz (1878), Frankreich 
(1848, 1874), Osterreich (1859, 1885), Däne- 
mark (1873), Schweden und Norwegen (1864), 
Holland (1874); Spanien, Italien, Belgien, ja 
selbst Rußland haben ihre Arbeiterschutzgesetzgebung. 
Der Inhalt der Gesetzgebungen ist natürlich sehr 
verschieden sowohl bezüglich der geschützten Per-
	        
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