Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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sonen, bezüglich der betroffenen Unternehmungen, 
bezüglich des Maßes des Schutzes (Arbeitsdauer, 
Bedingungen der Beschäftigung), wie auch bezüg- 
lich der Ausführung. Aber auch da konnte Geh. 
Oberregierungsrat Lohmann schon 1875 (Die 
Fabrikgesetzgebungen der Staaten des europäischen 
Kontinents 7) feststellen: „Wie mannigsach auch 
infolge nationaler Eigentümlichkeit und geschicht- 
licher Verhältnisse die Fabrikgesetzgebungen der 
einzelnen Staaten heute noch voneinander ab- 
weichen mögen, so ist doch eine allmähliche Aus- 
gleichung derselben mit Sicherheit vorauszusehen. 
Bei fortschreitender Entwicklung der Industrie 
werden die mit derselben verbundenen Gefahren 
allmählich auch da ihre volle Wirkung äußern, 
wo dieselben bis jetzt aus dem einen oder andern 
Grund noch nicht hervorgetreten sind, und selbst 
diejenigen Völker, welche den Forderungen der 
Humanität in ihrer Gesetzgebung Rechnung zu 
tragen nicht geneigt sind, werden durch die Er- 
fahrung belehrt werden, daß die zeitweiligen Vor- 
teile, welche ihrer Industrie aus der uneingeschränk- 
ten freien Bewegung erwachsen, doch nur ein 
Zehren von dem Kapital der Zukunft sind, und 
daß sie zur Ausbildung einer dem Stand ihrer 
Industrieentsprechenden Fabrikgesetzgebung schließ- 
lich durch das Gebot der Selbsterhaltung gezwungen 
werden. Bei der stetig wachsenden Gemeinschaft 
undgegenseitigen Abhängigkeit der heutigen Kultur- 
völker auf wirtschaftlichem Gebiet und bei der 
großen Bedeutung, welche der Fabrikgesetzgebung 
für die Entwicklung großer, für den Weltmarkt 
arbeitender Industriezweige beiwohnt, ist es sogar 
nicht unmöglich, daß die Ausbildung der Fabrik- 
gesetzgebung zum Gegenstand internationaler Ver- 
träge gemacht wird, und daß sich auch auf diesem 
Gebiet allmählich ein internationales Recht ent- 
wickelt, wie ja schon gegenwärtig von den Ver- 
tretern einzelner Industriezweige die Forderung 
erhoben wird, daß beim Abschluß neuer Handels- 
verträge die Verschiedenheit der Produktionsbe- 
dingungen, welche sich aus der Verschiedenheit der 
Fabrikgesetze ergibt, nicht unberücksichtigt bleibe." 
Der Not gehorchend haben alle Kulturstaaten 
sich zur Einführung und zu einem allmählichen, 
stetigen Ausbau einer Arbeiterschutzgesetzgebung 
entschließen müssen. Uberall hat sich dieselbe als 
Segen erwiesen, nicht bloß für die arbeitenden 
Klassen, sondern auch für die Industrie. „Niemals 
werde ich glauben, daß das, was eine Bevölkerung 
stärker und gesunder und weiser macht, sie schließ- 
lich ärmer machen kann“ (Macaulay): das hat 
sich überall bestätigt. Und je heftiger der inter- 
nationale Wettkampf entbrennt, je mehr Maschinen 
und Kapital Allgemeingut werden, desto mehr 
wird das Land den Vorsprung gewinnen, welches 
sich eines physisch und sittlich gesunden, kraftvollen 
Arbeiterstands erfreut. Je entwickelter und kom- 
plizierter die Maschinen werden, je mehr sie die 
physische Arbeitskraft ersetzen, desto größere Be- 
deutung gewinnt die Selbstverantwortlichkeit, das 
Arbeiterschutzgesetzgebung. 
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Pflichtgefühl, die Intelligenz und die Tüchtigkeit 
der Arbeiter. Anderseits drängt eine umsichtige 
Arbeiterschutzgesetzgebung wieder auf den steten 
Fortschritt der Technik. Die Beschränkung in 
der Ausnutzung der Arbeitskräfte, die damit auch 
teurer werden, sucht man durch Verbesserung 
und Neueinstellung von Maschinen wieder wett- 
zumachen. Der Arbeiterschutz ist zugleich ein 
Schutz der einsichtigen, wohlwollenden Arbeit- 
geber gegen die unlautere Konkurrenz solcher 
Arbeitgeber, die durch rücksichtslose Ausbeutung 
der Kinder= und Frauenarbeit, durch übermäßig 
lange Arbeitszeit, durch Sonntagsarbeit usw. in 
der Lage sind, billiger zu produzieren und ihre 
Waren zu Schleuderpreisen auf den Markt zu 
bringen. Die rücksichtslose Ausbeutung der Ar- 
beiter ist Raubbau auf Kosten der nationalen 
Volkskraft — eine schwere Schädigung vor allem 
auch der nationalen Produktions= wie Wehrkraft. 
4. Eineinternationale Reglung des 
Arbeiterschutzes in dem Sinn, daß alle oder auch 
nur eine Reihe von Staaten sich auf einheitliche 
Bestimmungen bezüglich des Arbeiterschutzes ver- 
ständigen oder gar eine Kontrolle bezüglich der 
Ausführung im einzelnen gestatten würden, ist 
ausgeschlossen. Aufgabe und Bedeutung einer 
internationalen Verständigung kann und soll nur 
sein: auf gewisse Minimalforderungen sich zu 
einigen und weiterhin dahin zu wirken, daß jeder 
Staat in seiner Weise, nach dem Stand und den 
Bedürfnissen seiner Industrie und seiner Arbeiter 
den Arbeiterschutz immer mehr verwirklicht. Eine 
internationale Reglung erleichtert, aber bedingt 
nicht den nationalen Arbeiterschutz, vielmehr bildet 
die zeitige Schonung der physischen und sittlichen 
Kraft eines Volkes die Voraussetzung seines Siegs 
im wirtschaftlichen Wettkampf der Nationen. Eng- 
land und Deutschland bieten den glänzenden Be- 
weis. Vgl. d. Art. Internat. Arbeiterschutzkonferenz. 
Über den Inhalt der deutschen Arbeiterschutz- 
gesetzgebung s. d. Art. Gewerbeordnung, Haus- 
industrie, Kinderschutzgesetzgebung, Normalarbeits- 
tag, Sonntagsruhe. 
Literatur. Zur Frage der A. im allgemeinen 
sowie der internationalen A. sind vor allem (außer 
dem „Handwörterbuch der Staatswissenschaften") 
zu nennen: über Fabrikgesetzgebung, Schiedsge- 
richte u. Einigungsämter, Gutachten (1873); Th. 
Lohmann, Die Fabrikgesetzgebungen der Staaten 
des europ. Kontinents (1875); G. Adler, Die Frage 
des internat. Arbeiterschutzes (1888); K. Bücher, 
Zur Gesch. der internat. Fabrikgesetzgebung (1888); 
V. Kulemann, Arbeiterschutz sonst u. jetzt in Deutsch- 
land u. im Ausland (1893); Frankenstein, Der 
Arbeiterschutz (1896); van Zanten, Die A. in den 
europ. Ländern (1902); v. Zwiedineck-Südenhorst, 
Arbeiterschutz u. Arbeiterversicherung (1905); P. 
Umbreit, Die A. (1907); Herz, Stand u. Wirk- 
samkeit der A. in Österreich (1898); Müller, So- 
ziale Verwaltung in Ssterreich 1 (1900); Koenigs, 
Durchführung des schweiz. Fabrikgesetzes (1891); 
Landmann, Die A. in der Schweiz (1904); Boja- 
nowski, Das engl. Fabrik= u. Werkstättengesetz von 
 
	        
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