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drei Staatsformen, welche in geschichtlicher Ent-
wicklung der Reihe nach bei ihnen aufgetreten
waren, mit den Namen Königtum, Olig-
archie, d. h. Herrschaft einer Minderheit, und
Volksherrschaft (Demokratie), d. h. Herr-
schaft der gesamten freien Bürgerschaft, bezeichnet.
Im Peloponnesischen Krieg aber kam für den an
zweiter Stelle genannten der Name Aristokratie
auf, durch welchen man den auf Errichtung einer
Minoritätsherrschaft gerichteten Bestrebungen bes-
seren Kredit zu verschaffen suchte. Denn daß die
„Besten“ herrschen sollen, scheint eine Forderung
der Vernunft zu sein, die jedem einleuchtet. Dann
wurde der Name mit Vorliebe von den Sokratikern
angewandt, „seiner guten Vorbedeutung wegen“,
wie Plato im Dialog „Politikos“ sagt. Aristo-
teles gebraucht das Wort in doppelter Bedeutung.
Er stellt einmal die Aristokratie als eine gute
Verfassung der Oligarchie als einer schlechten
gegenüber: das Prinzip der ersteren ist die
Tugend, das der letzteren der Reichtum. Die
Aristokratie in diesem Sinn fällt ihm daher mit
dem Idealstaat zusammen. In zweiter Linie
aber läßt er den Namen für solche Staaten gelten,
in denen bei der Verteilung der Amter neben
Reichtum und Abstammung die moralische und
intellektuelle Tüchtigkeit mit berücksichtigt wird,
daher er die Ernennung durch Wahl im Gegen-
satz zu der Ernennung durchs Los eine aristo-
kratische Einrichtung nennt. Im modernen Ge-
brauch sind die Spuren des Ursprungs nicht völlig
verwischt. Der Name Aristokratie erkennt der
herrschenden Minorität einen Rechtsanspruch zu,
welchen man aus dem größeren materiellen Be-
sitz für sich allein niemals ableiten würde. Aber
im Unterschied gegen die antike Auffassung gilt
uns die Berufung zur Herrschaft durch Wahl nicht
für aristokratisch, „weil offenbar diejenigen, wel-
chen eine Ernennung der regierenden Wenigen und
eine Übertragung der Staatsgewalt an sie zu-
stände, die eigentlichen Inhaber der letzteren wären,
somit die Aristokratie gar keine eigentümliche
Staatsart, sondern nur eine wenig zweckmäßig
eingerichtete Form der repräsentativen Demokratie
bildete" (Mohl). Vielmehr regiert in der Aristo-
kratie die herrschende Minorität auf Grund eigenen
Rechts, und das einzelne Mitglied ist zur Herr-
schaft berufen wegen seiner Zugehörigkeit zu einem
bestimmten, über den Rest des Volkes erhobenen
Stand. — Verschieden von dem so festgestellten
Sinn ist die übertragene Bedeutung des Wortes,
in der man es ganz allgemein auf die höheren
Gesellschaftsklassen anwendet und von einer Geld-
aristokratie, Militäraristokratie, Gelehrtenaristo-
kratie usw. spricht. Im folgenden ist nur von der
Aristokratie als Staatsverfassung die Rede.
2. Entwicklung der aristokratischen
Staatsverfassung. Für eine Betrachtungs-
weise, welche die historischen Gebilde an dem
Maßstab eines abstrakten Vernunftbegriffs zu
messen unternimmt und den Ursprung des Staats
Aristokratie.
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aus der freiwilligen Ubereinkunft zuvor staatloser
menschlicher Individuen ableitet, muß sich die
aristokratische Staatsform notwendig als ein
Widersinn und eine Ungerechtigkeit darstellen.
Daß die Gewalt in den Händen der Besten sein
solle, klingt freilich sehr verständig; aber welches
ist das Kriterium, an welchem die Besten erkannt
werden, und wer entscheidet über dessen Vor-
handensein? Bildung und Tugend sind perfön-
liche Vorzüge, werden jedenfalls dauernd niemals
das Vorrecht eines einzelnen Standes sein; eine
Einrichtung, welche sie zur Grundlage in der
Scheidung zwischen Herrschenden und Beherrschten
nimmt, mag in einer Generation sich vor der
Vernunft rechtfertigen lassen, um schon in der
nächsten in Willkür und Bedrückung umzuschlagen.
Nicht wenige von den Erörterungen, welche in
staatswissenschaftlichen oder staatsphilosophischen
Werken der Aristokratie gewidmet sind, nehmen
in ihrer Beurteilung eine derartige Stellung ein
und scheinen geneigt, sie völlig aus der philo-
sophischen Staatslehre zu streichen oder ihr ledig-
lich pathologische Bedeutung beizumessen. Aber
auch wo man so weit nicht gehen will, sondern
eine Art philosophischer Konstruktion der Aristo-
kratie unternimmt, kommt man zu keinem befrie-
digenden Resultat. Denn die Aristokratien, wie
die Staaten überhaupt, sind nichts Gemachtes,
sondern ein Gewordenes, und nur die geschichtliche
Betrachtung kann daher zum Verständnis hin-
führen.
Die Menschen sind von Natur ungleich.
Allen revolutionären Utopien zum Trotz wird
dieser Satz durch den Gang der Weltgeschichte wie
durch die Erfahrung des täglichen Lebens un-
erschütterlich festgestellt. An die mancherlei Un-
gleichheiten aber, welche bereits das kleinste mensch-
liche Gemeinwesen aufweist, Ungleichheiten der
physischen und geistigen Begabung, des Wissens
und Könnens und der moralischen Eigenschaften
im engeren Sinn, knüpfen sich alsbald mannig-
fache Verhältnisse des Einflusses, der Leitung und
Führung, der Unterwerfung und Herrschaft. Die
natürliche Ungleichheit der Begabung wird durch
den Fortgang des Lebens, durch die Angliederung
äußerer Güter entwickelt, gesteigert, befestigt. Der
Vorrang der Persönlichkeit gewinnt seinen Aus-
druck wie die Mittel seiner Erhaltung und Meh-
rung in der besseren wirtschaftlichen Lage. Und
was die Einzelpersönlichkeit über die Menge er-
hob, Einfluß und Ansehen, Macht und Besitz,
geht mittels des Erbrechts auf die Familie über.
Das Andenken des Vaters breitet seinen Glanz
über die Kinder aus, und nicht selten sind diese
auch Erben eben jener Eigenschaften, welche den
Vater groß gemacht haben. Ererbter Familien-
besitz gibt die Möglichkeit zu sorgfältigerer, all-
seitigerer Erziehung und Ausbildung, begründet
eine von der Familiensitte getragene verfeinerte
Lebensweise. Aus der großen Menge heben sich
so einzelne ausgezeichnete Familien hervor, welche