365
weil eine strenge Scheidelinie Regierende und
Regierte trennt und alle Gewalt ausschließlich in
den Händen einer Klasse liegt, müssen die Be-
herrschten sich der ruhigen Uberzeugung hingeben
können, daß die Gewalt nicht zur Kränkung ihrer
Rechte mißbraucht werde. Das Volk erträgt es,
von der Teilnahme an den Staatsgeschäften aus-
geschlossen zu sein; es erträgt es nicht, wenn über-
mütige Patrizier in die Sphäre seines Privatrechts
eingreifen. Indessen pflegen aristokratische Regie-
rungen in der Tat, solange nicht außerordentliche
Ereignisse die Leidenschaften entfesseln, eine größere
Achtung vor dem Recht an den Tag zu legen als
demokratische. Die Rechtspflege der Venezianer war
wegen ihrer Strenge, aber auch wegen ihrer Unpar-
teilichkeit berühmt. — Daß die Glieder des herr-
schenden Standes, wie häufig behauptet wird, unter
sich völlig gleich sein müßten, liegt an sich nicht im
Wesen der Verfassung. Dasselbe historische Recht,
welches die Grundlage für die Herrschaft des Stan-
des bildet, kann auch innerhalb desselben Abstu-
fungen der Rechte und Vorzüge begründen, welche
gewissenhafte Wahrung erheischen. Richtig aber
ist, daß eine derartige Gliederung innerhalb der
Geschlechter leicht dahin führen kann, die Gewalt
in den Händen der mächtigeren unter ihnen zu
konzentrieren. So geschah es in Venedig, wo durch
den „Schluß des Großen Rats“ vom Jahr 1297
die Mehrzahl der Patrizierfamilien von der Er-
werbung derhöchsten Würden ausgeschlossen wurde;
so in Bern, wo sich aus dem Kreis der regierungs-
fähigen Familien die bevorrechtete Minderzahl der
wirklich regierenden ausschied.
Als die Voraussetzung für das Aufkommen einer
aristokratischen Herrschaft ist oben das Vorhanden-
sein eines sozial höher stehenden, die übrigen an
Besitz, Ansehen und Bildung überragenden Stan-
des bezeichnet worden. Ihre Fortexistenz wird dem-
nach durch die Fortdauer dieses Verhältnisses be-
dingt sein; dieselbe wird bedroht erscheinen, wenn
innerhalb der beherrschten Majorität Elemente auf-
treten, welche in den angeführten Richtungen mit
denen der herrschenden Minorität wetteifern. Dann
sind verschiedene Verhältnisse denkbar. Die alten
Patriziergeschlechtermögen, wenn auch nacheinigem
Widerstreben, den neuen Elementen ihre Reihen
öffnen und ihnen einen Anteil an den Staats-
geschäften verstatten. Dies ist der wohlfeile Rat,
den Historiker und Staatsphilosophen den unter-
gegangenen Aristokratien nachträglich zu geben
pflegen. Durch den Zuwachs frischer Kräfte würden
sie, so sagt man, sich selbst gestärkt und vor Ver-
knöcherung bewahrt haben. Aber man unterschätzt
hierbei nicht nur den natürlichen Widerstand,
welchen jederzeit und in allen Lagen die Besitzenden
den Forderungen der Prätendenten entgegenstellen;
man übersieht insbesondere, daß auf solchem Weg
rascher oder langsamer eine völlige Umwandlung
des Staatswesens eintreten muß. Wenn die Be-
rufung zur Herrschaft nicht mehr auf der erblichen
Zugehörigkeit zu einem geschlossenen Stand be-
Aristoteles.
366
ruht, so wird sie sich unausweichlich zuletzt nach
der Höhe des Zensus richten, die Aristokratie wird
zur Plutokratie, zur Herrschaft der Reichen werden.
Oder aber die herrschende Minorität zieht sich fester
in sich zusammen und sucht ihren ausschließlichen
Vorrang mit Gewalt zu behaupten. Dann ent-
scheidet eben die Gewalt, wie in den Kämpfen
der Geschlechter mit den Zünften in den Städten
des späteren Mittelalters. Auf die Dauer aber
wird sie nicht stark genug sein, die Aristokratie
rein und voll aufrecht zu erhalten, die Zeit der
letzteren ist dann vorüber. Auch in Athen, das
uns gewöhnlich als der höchste Ausdruck der Demo-
kratie gilt, hatten einstmals die Geschlechter die
Macht im Staat besessen, bis die Gemeinden neben
sie getreten waren und sie nun in der Gesamtheit
der Bürgerschaft verschwanden.
Literatur. Gagern, Resultate der Sitten-
geschichte II (I/IV 21835/37, V/VI 1822); K. S.
Zachariä, Vierzig Bücher vom Staat III, Buch 17
(5 Bde, 1820/32, :1839/43, 7 Bde); Bluntschli,
Lehre vom modernen Staat 1, 6, Kap. 17 ff (I/II
*1885/86); Mohl, Enzyklopädie der Staatswissen-
schaften (71872); Henkel, Studien zur Gesch., der
griech. Lehre vom Staat (1872). Lv. Hertling.)
Aristoteles, geb. 384 v. Chr. zu Stagira,
gest. 322, der Schüler Platos und Lehrer Alex-
anders d. Gr., bezeichnet nicht nur den Höhe-
punkt, bis zu welchem in Griechenland der Ent-
wicklungsgang der Philosophie hinführte, er
erscheint nicht nur durch die Universalität seines
Geistes, welche Tiefe der Spekulation mit ausge-
breitetem, die gesamten Kenntnisse seiner Zeit um-
fassendem Wissen vereinigt, als einer der bedeutend-
sten Männer aller Zeiten, er hat auch wie kaum
ein anderer auf die späteren Jahrhunderte einen
nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Den Scholastikern
des christlichen Mittelalters war er der Philosoph
schlechtweg, der Meister der Schule; in seinen
naturwissenschaftlichen Werken suchte man Auf-
schluß über die Gestalten und Begebenheiten und
die gesamte Einrichtung der sichtbaren Welt, seine
metaphysischen, anthropologischen, ethischen Auf-
stellungen bildeten die traditionellen Bestandstücke
der gelehrten Bildung, in der Theologie fanden
sie erfolgreiche Verwertung. Die aristotelische
Logik endlich ist noch heute trotz aller Anfein-
dungen, die sie seit den Zeiten der Renaissance
erfahren mußte, trotz aller Reformversuche der
Gegenwart die unentbehrliche und in gewissen
Punkten unerschütterliche Grundlage für jede
wissenschaftliche Theorie über die Formen und
Gesetze unseres Denkens.
Um eine vollständige, allen diesen Richtungen
gleichmäßig nachgehende Darlegung der aristote-
lischen Lehre kann es sich an diesem Ort selbst-
verständlich nicht handeln. Hier interessiert nur
seine Stellung zu den Problemen derphilosophischen
Staats= und Rechtslehre. Zum Verständ-
nis derselben aber ist es notwendig, in Kürze an
den Standpunkt zu erinnern, welchen Aristoteles