Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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weil eine strenge Scheidelinie Regierende und 
Regierte trennt und alle Gewalt ausschließlich in 
den Händen einer Klasse liegt, müssen die Be- 
herrschten sich der ruhigen Uberzeugung hingeben 
können, daß die Gewalt nicht zur Kränkung ihrer 
Rechte mißbraucht werde. Das Volk erträgt es, 
von der Teilnahme an den Staatsgeschäften aus- 
geschlossen zu sein; es erträgt es nicht, wenn über- 
mütige Patrizier in die Sphäre seines Privatrechts 
eingreifen. Indessen pflegen aristokratische Regie- 
rungen in der Tat, solange nicht außerordentliche 
Ereignisse die Leidenschaften entfesseln, eine größere 
Achtung vor dem Recht an den Tag zu legen als 
demokratische. Die Rechtspflege der Venezianer war 
wegen ihrer Strenge, aber auch wegen ihrer Unpar- 
teilichkeit berühmt. — Daß die Glieder des herr- 
schenden Standes, wie häufig behauptet wird, unter 
sich völlig gleich sein müßten, liegt an sich nicht im 
Wesen der Verfassung. Dasselbe historische Recht, 
welches die Grundlage für die Herrschaft des Stan- 
des bildet, kann auch innerhalb desselben Abstu- 
fungen der Rechte und Vorzüge begründen, welche 
gewissenhafte Wahrung erheischen. Richtig aber 
ist, daß eine derartige Gliederung innerhalb der 
Geschlechter leicht dahin führen kann, die Gewalt 
in den Händen der mächtigeren unter ihnen zu 
konzentrieren. So geschah es in Venedig, wo durch 
den „Schluß des Großen Rats“ vom Jahr 1297 
die Mehrzahl der Patrizierfamilien von der Er- 
werbung derhöchsten Würden ausgeschlossen wurde; 
so in Bern, wo sich aus dem Kreis der regierungs- 
fähigen Familien die bevorrechtete Minderzahl der 
wirklich regierenden ausschied. 
Als die Voraussetzung für das Aufkommen einer 
aristokratischen Herrschaft ist oben das Vorhanden- 
sein eines sozial höher stehenden, die übrigen an 
Besitz, Ansehen und Bildung überragenden Stan- 
des bezeichnet worden. Ihre Fortexistenz wird dem- 
nach durch die Fortdauer dieses Verhältnisses be- 
dingt sein; dieselbe wird bedroht erscheinen, wenn 
innerhalb der beherrschten Majorität Elemente auf- 
treten, welche in den angeführten Richtungen mit 
denen der herrschenden Minorität wetteifern. Dann 
sind verschiedene Verhältnisse denkbar. Die alten 
Patriziergeschlechtermögen, wenn auch nacheinigem 
Widerstreben, den neuen Elementen ihre Reihen 
öffnen und ihnen einen Anteil an den Staats- 
geschäften verstatten. Dies ist der wohlfeile Rat, 
den Historiker und Staatsphilosophen den unter- 
gegangenen Aristokratien nachträglich zu geben 
pflegen. Durch den Zuwachs frischer Kräfte würden 
sie, so sagt man, sich selbst gestärkt und vor Ver- 
knöcherung bewahrt haben. Aber man unterschätzt 
hierbei nicht nur den natürlichen Widerstand, 
welchen jederzeit und in allen Lagen die Besitzenden 
den Forderungen der Prätendenten entgegenstellen; 
man übersieht insbesondere, daß auf solchem Weg 
rascher oder langsamer eine völlige Umwandlung 
des Staatswesens eintreten muß. Wenn die Be- 
rufung zur Herrschaft nicht mehr auf der erblichen 
Zugehörigkeit zu einem geschlossenen Stand be- 
Aristoteles. 
  
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ruht, so wird sie sich unausweichlich zuletzt nach 
der Höhe des Zensus richten, die Aristokratie wird 
zur Plutokratie, zur Herrschaft der Reichen werden. 
Oder aber die herrschende Minorität zieht sich fester 
in sich zusammen und sucht ihren ausschließlichen 
Vorrang mit Gewalt zu behaupten. Dann ent- 
scheidet eben die Gewalt, wie in den Kämpfen 
der Geschlechter mit den Zünften in den Städten 
des späteren Mittelalters. Auf die Dauer aber 
wird sie nicht stark genug sein, die Aristokratie 
rein und voll aufrecht zu erhalten, die Zeit der 
letzteren ist dann vorüber. Auch in Athen, das 
uns gewöhnlich als der höchste Ausdruck der Demo- 
kratie gilt, hatten einstmals die Geschlechter die 
Macht im Staat besessen, bis die Gemeinden neben 
sie getreten waren und sie nun in der Gesamtheit 
der Bürgerschaft verschwanden. 
Literatur. Gagern, Resultate der Sitten- 
geschichte II (I/IV 21835/37, V/VI 1822); K. S. 
Zachariä, Vierzig Bücher vom Staat III, Buch 17 
(5 Bde, 1820/32, :1839/43, 7 Bde); Bluntschli, 
Lehre vom modernen Staat 1, 6, Kap. 17 ff (I/II 
*1885/86); Mohl, Enzyklopädie der Staatswissen- 
schaften (71872); Henkel, Studien zur Gesch., der 
griech. Lehre vom Staat (1872). Lv. Hertling.) 
Aristoteles, geb. 384 v. Chr. zu Stagira, 
gest. 322, der Schüler Platos und Lehrer Alex- 
anders d. Gr., bezeichnet nicht nur den Höhe- 
punkt, bis zu welchem in Griechenland der Ent- 
wicklungsgang der Philosophie hinführte, er 
erscheint nicht nur durch die Universalität seines 
Geistes, welche Tiefe der Spekulation mit ausge- 
breitetem, die gesamten Kenntnisse seiner Zeit um- 
fassendem Wissen vereinigt, als einer der bedeutend- 
sten Männer aller Zeiten, er hat auch wie kaum 
ein anderer auf die späteren Jahrhunderte einen 
nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Den Scholastikern 
des christlichen Mittelalters war er der Philosoph 
schlechtweg, der Meister der Schule; in seinen 
naturwissenschaftlichen Werken suchte man Auf- 
schluß über die Gestalten und Begebenheiten und 
die gesamte Einrichtung der sichtbaren Welt, seine 
metaphysischen, anthropologischen, ethischen Auf- 
stellungen bildeten die traditionellen Bestandstücke 
der gelehrten Bildung, in der Theologie fanden 
sie erfolgreiche Verwertung. Die aristotelische 
Logik endlich ist noch heute trotz aller Anfein- 
dungen, die sie seit den Zeiten der Renaissance 
erfahren mußte, trotz aller Reformversuche der 
Gegenwart die unentbehrliche und in gewissen 
Punkten unerschütterliche Grundlage für jede 
wissenschaftliche Theorie über die Formen und 
Gesetze unseres Denkens. 
Um eine vollständige, allen diesen Richtungen 
gleichmäßig nachgehende Darlegung der aristote- 
lischen Lehre kann es sich an diesem Ort selbst- 
verständlich nicht handeln. Hier interessiert nur 
seine Stellung zu den Problemen derphilosophischen 
Staats= und Rechtslehre. Zum Verständ- 
nis derselben aber ist es notwendig, in Kürze an 
den Standpunkt zu erinnern, welchen Aristoteles
	        
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