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ruht. So wird ihm die Staatskunst zur Staats-
pädagogik. Denn daß bei dem Zusammenhang
zwischen der Beschaffenheit der Bürger und der
des Staats die Erziehung nur eine staatliche sein
könne, ist ihm nicht zweifelhaft. In geordneter
Stufenfolge soll dieselbe die körperliche, sittliche
und wissenschaftliche Ausbildung umfassen, und
nicht nur auf die Jugend, auch auf das Leben der
Erwachsenen soll sich die erziehende und beauf-
sichtigende Fürsorge des Staats erstrecken. Ja die
Überwachung und die Eingriffe der Staatsgewalt
beginnen noch vor der Erziehung. Was Aristoteles
hier über die Reglung der Kindererzeugung aus-
führt, widerstreitet ebensosehr dem modernen Frei-
heitsbewußtsein wie der durch das Christentum
geschärften sittlichen Empfindung. Von den Mitteln
der Erziehung werden nur Gymnastik und
Musik eingehend besprochen. In betreff der
ersteren warnt Aristoteles vor einseitiger Über-
schätzung, die er den Spartanern zum Vorwurf
macht. Große Bedeutung legt er der Musik und
ihrer ethischen Wirkung bei. Mehr als alle andern
Künste zur Darstellung sittlicher Eigenschaften und
Zustände geeignet, soll sie diese und zugleich die
Freude daran in den Zuhörern hervorrufen und
o allmählich eine Gewohnheit zum Sittlichen
begründen. Sorgfältig werden die Tonarten und
Rhythmen ausgewählt, welche hierzu geschickt sind.
Eigene Ausübung der Musik aber ist nur so weit
zulässig, als das Verständnis dadurch bedingt ist;
was darüber hinausliegt, also zumal jede pro-
fessionsmäßige und virtuosenhafte Betätigung,
gilt als des freien Mannes unwürdig. Daß
Aristoteles die Erziehung nicht auf diese beiden
Gebiete beschränkt wissen wollte, geht aus be-
stimmten Aussprüchen hervor, in den Büchern der
Politik ist jedoch ein weiteres zur Erziehungslehre
nicht enthalten.
Auch was wir über die Verfassung des
besten Staates erfahren, ist äußerst spärlich.
Zur richtigen Würdigung des wenigen, wie der
aristotelischen Staatslehre überhaupt, darf man
den einen Umstand nicht außer acht lassen, auf
welchem der tiefgreifende Unterschied zwischen dem
griechischen und dem modernen Staatsleben beruht.
Wie die Griechen nur einen Namen für Stadt und
Staat besitzen, so war ihr Staat in der Tat Stadt-
staat, das politische Leben konzentrierte sich in der
Hauptstadt, von welcher das umliegenbe Gebiet in
jeder Weise abhängig war. Und dieses politische
Leben spielte sich vor der städtischen Bevölkerung
tagtäglich in vollster Offentlichkeit ab, jeder Bürger
nahm daran teil, nicht durch einen Vertreter, sondern
persönlich. „Seine Uberzeugungen und Stichworte
schöpfte er nicht aus dem trüben Medium der Presse,
sondern aus dem Munde sachkundiger Redner.
Die Staatsmänner seiner Zeit waren ihm wohlbe-
kannte Figuren, die Gegenpartei keine vage Kol-
lektivbezeichnung, er rieb sich Schulter an Schulter
mit ihr auf der Straße“ (Bradley). Aristoteles
verlangt für den besten Staat einen Umfang,
—)9
Aristoteles.
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welcher Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit ge-
währleistet, der aber nicht so ausgedehnt ist, daß
er die leichte Ubersehbarkeit hindern würde, denn
die einzelnen müssen einander und der Obrigkeit be-
kannt sein können. Eine Reihe von Bestimmungen
ist nur unter dieser Voraussetzung eines mäßigen
Umfangs und einer beschränkten Zahl der Voll-
bürger begreiflich, so die Einrichtung der gemein-
samen Mahlzeiten, der Syssitien, so die Anordnung,
daß von den gleichmäßig an die Bürger verteilten
Landlosen je eines in der Nähe der Stadt, das
andere gegen die Grenze hin gelegen sein soll, so
endlich, was über die Verfassungsform des besten
Staats festgesetzt wird. Das Wesentliche aller
Verfassungsgesetze ist nach aristotelischer Auffas-
sung, die hier nur die allgemein griechische ist, die
Verteilung der politischen Rechte und Güter. Wenn
die Gerechtigkeit gleiche Verteilung verlangt, so
doch mit der Einschränkung, daß nur Gleiche Glei-
ches erhalten dürfen, Ungleiche aber Ungleiches.
Der höchste Maßstab nun und darum derjenige,
der im idealen Staat Anwendung zu finden hat,
ist die Tugend. Zugleich aber gilt die Annahme,
daß an ihr im besten Staat alle teilhaben. Ander-
seits muß freilich ein Unterschied bestehen zwischen
Regierenden und Regierten. Nun teilen sich die
Staatsgeschäfte in den Kriegsdienst und die Ver-
waltungstätigkeit; jener erfordert jugendliche Kraft
und Tapferkeit; diese Besonnenheitund Erfahrung;
naturgemäß eignet somit jener mehr der Jugend,
diese dem reiferen Alter. Und so ist die Lösung,
daß im besten Staat alle an den Staatsämtern
und Geschäften teilnehmen, nur nicht alle zugleich,
sondern gleichsam klassenweise und jedesmal in der
Richtung, wie es den besondern Fähigkeiten der
zur Tätigkeit Herangezogenen entspricht. Den
Greisen im besondern bleiben die priesterlichen
Verrichtungen vorbehalten. Darum gilt, daß im
vollkommenen Staat alle Bürger gleiche Rechte
haben und dennoch eine Minderheit wirklich re-
giert, er ist eine Aristokratie, eine „Herrschaft der
Besten“ im vollen und eigentlichen Sinn.
Aufgabe einer wissenschaftlichen Staatslehre ist
nun aber nach Aristoteles nicht bloß die Schil-
derung des vollkommensten Zustands, der sich
Möglicherweise, bei einem seltenen Zusammentreffen
glücklicher Bedingungen, verwirklichen ließe, sie
hat auch zu erwägen, was das unter gegebenen
Verhältnissen Erreichbare, und nicht minder, was
das für die Mehrzahl der Staaten Geeignete ist.
Ohne den sittlichen Idealismus zu verleugnen,
bekunden die hier einschlagenden Erörterungen in
hohem Maß den Blick des praktischen Staatmanns
in der Schätzung der Faktoren, welche für die
wirkliche Gestaltung der Dinge von Einfluß sind.
Vor allem sprechen sie die klare Erkenntnis aus,
daß Verfassungen nicht ein bloßes Gewand sind,
welches äußerlich um den Leib der Völker geworfen
wurde, sondern vielmehr auch ihrerseits das Er-
gebnis der verschiedenartigen Umstände, welche
jeweils den Charakter eines Volkes bestimmen.