Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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kreis zuweist, zu helfen strebt, ohne den so wesent- 
lichen Trieb zur Selbsterhaltung zu verkümmern, 
umd infolgedessen stets und wiederholt die Be- 
dürfnisse und Arbeitskräfte der Pfleglinge prüft. 
Zum Besuch der Armen, der so sehr ihren Lebens- 
mut stärkt und ebenso heilsam auf die reichen 
Wohltäter zurückwirkt, nötigt schon die Natural- 
verpflegung, die vor der Geldunterstützung 
den Vorrang verdient. Für offizielle Armenpfleger 
wäre allerdings ein Buchhaltungssystem von Geld- 
unterstützungen das bequemste. Auch sagt man, 
Naturallieferungen seien in den meisten Fällen 
teurer, weil sie reichlicher ausfallen. Die Armen- 
bevölkerung ist nämlich an Entbehrungen gewöhnt, 
die sich der wohlsituierte Armenpfleger schwer vor- 
stellt. Er liefert also dem Armen in natura mehr 
und Besseres, als sich derselbe für Geld kaufen 
würde, was aber nur gelobt werden kann. Die 
Naturalverpflegung hat ferner den Vorzug, daß 
sie direkt ihren Zweck, die Ernährung des Armen, 
erreicht. Es wird die Gelegenheit und Versuchung 
beseitigt, das Almosen zu vergeuden. Schon um 
die Art der erforderlichen Naturalunterstützung 
zu erforschen, ist der Besuch der Armen notwendig. 
Insbesondere bei den Vinzentiusvereinen bildet 
derselbe den Mittelpunkt der Armenpflege. Die 
Mitglieder begnügen sich nicht, von fern und vor- 
nehm einiges Geld zu schicken, sondern sollen per- 
sönlich in die Kammern der Armut gehen. Da- 
durch wird die Verwendung überwacht und im 
Haushalt des Armen selbst mancher Anknüpfungs- 
punkt gefunden, durch welchen er dem Elend wie- 
der entrissen werden kann. Dieser Verkehr soll 
sich nicht bloß auf die wirklichen Armen beschrän- 
ken, sondern auch jenen zugut kommen, welche in 
Gefahr sind, ihrem wirtschaftlichen Ruin entgegen- 
zutreiben. — Zwischen der Haus= und der An- 
staltsarmenpflege stehen einige ältere Formen ge- 
meindlicher Armenversorgung: die Weggabe der 
Armen an die Wenigstfordernden und das System 
des Reihezugs. Solche Einrichtungen sind nur so 
lange möglich und erträglich, als christlicher Sinn 
herrscht oder, wie man sich ausdrückt, „patriarcha- 
lische Verhältnisse“ existieren; es kommen aber 
häufig Mißstände dabei vor. 
In vielen Fällen genügt die Hausarmenpflege 
nicht. Wo länger dauernde oder bleibende Er- 
werbsunfähigkeit (Blinde und Taubstumme, Kre- 
tinen, Krüppel, Sieche, Kranke) in Betracht 
kommt, ist die Anstaltspflege nicht bloß 
billiger, sondern auch besser, weil zur Pflege theo- 
retische Vorbildung und praktische Erfahrung un- 
entbehrlich sind. Was die Anstaltspflege angeht, 
so kommen in Betracht Anstalten zur: Fürsorge für 
kleine Kinder vor der Schulzeit (Versorgungs- 
häuser für uneheliche Kinder, Waisenhäuser, 
Säuglingsheime, Kinderasyle, Krippen, Kinder- 
bewahranstalten), für arme, verwaiste und ver- 
wahrloste Kinder im schulpflichtigen Alter (Wai- 
senhäuser, Rettungshäuser, Erziehungsanstalten; 
Horte zur Unterbringung der Kinder in der schul- 
  
Armenpflege. 
  
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freien Zeit) für die heranwachsende Jugend, zur 
Bekämpfung der Trunksucht für Alkoholkranke, 
für Gebrechliche und Kranke (Krüppelheime, Blin- 
denanstalten, Taubstummenanstalten, Schwach- 
sinnige-, Idioten-, Epileptikeranstalten, Irrenan- 
stalten, Krankenhäuser, Krankenkostküchen, Kinder- 
heilstätten, Genesendenheime), für Obdachlose. 
Bezüglich der Jugendfürsorge bedürfen beson- 
derer Erwähnung die gesetzlichen Bestimmungen 
vom Jahr 1903, welche die Kinderarbeit in 
gewerblichen Betrieben sehr wesentlich einschränken, 
und noch mehr das preußische Gesetz betreffend die 
Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 
1900. Eine Entziehung minderjähriger Personen 
aus dem sittlich gefährdenden Einfluß ihrer Um- 
gebung und Überweisung in eine Erziehung unter 
öffentlicher Aufsicht kann auf Antrag eines jeden 
erfolgen, der ein Interesse an der Fürsorgeerziehung 
hat, also besonders auf Antrag von Geistlichen 
und Lehrern. Die Fürsorgeerziehung erfolgt unter 
öffentlicher Aufsicht und auf öffentliche Kosten in 
einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungs- 
anstalt. Für die Anstaltspflege empfiehlt sich das 
System der Familien, indem eine Anzahl von 
Zöglingen (12—15) einem Leiter überwiesen 
werden und mit diesem nach Art des Familien- 
verkehrs besondere Gruppen bilden (Muster: Er- 
ziehungsheim „Am Urban"“ in Zehlendorf bei 
Berlin, „Rauhes Haus“ in Hamburg, Johannes- 
stift in Plötzensee bei Berlin). Hinzuweisen ist 
hier auch auf den „Erziehungsverein der Dihzese 
Paderborn“. Ebenso entfaltet eine segensreiche 
Tätigkeit der im Jahr 1896 zu Berlin gegründete 
und in vielen Städten nachgeahmte „Freiwillige 
Erziehungsbeirat für schulentlassene Waisen“. 
Was den Bau von Krankenhäusern angeht, so 
unterscheidet man gegenwärtig drei Systeme: 
Blocksystem (Unterbringung aller Räume des 
Krankenhauses in einem Gebäude), Baracken- 
system (luftige Baracken in Gärten), Pavillon- 
system (kleinere, freistehende Häuser sind zu einem 
Krankenhaussystem verbunden). 
2. Eine spezielle Betrachtung bedarf die Aus- 
führung der Armenpflege bei der Kategorie von 
Armen, welche nicht arbeiten wollen. Auf 
sie hat die Armenpolizei ihr Augenmerk zu 
richten. Arbeitsscheu, Liederlichkeit, Trunksucht 
sind Ursachen der verschuldeten persönlichen Armut. 
Die staatliche Gesetzgebung hat Gelegenheit, prä- 
ventiv dieser Art Armut zu begegnen, indem sie 
deren Gründe strafrechtlich und polizeilich ahndet. 
Hier konkurrieren die Maßregeln der Sicherheits- 
polizei mit den Maßregeln der Sittenpolizei. 
Durch Beseitigung von Gelegenheit und Ver- 
suchung, durch nicht zu laxe Konzession der 
Schankgewerbe, durch Uberwachung der öffent- 
lichen Vergnügungslokale, Bälle, Spielhöllen, 
Schauspiele kann die Obrigkeit indirekt zur He- 
bung der Sittlichkeit mitwirken (s. d. Art. Sitten- 
polizei). — Eine der frühesten Repressivmaß- 
regeln gegen arbeitsfähige Arme war die Unter-
	        
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