Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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drückung des müßiggängerischen Bettels. Ein 
gänzliches Verbot des öffentlichen Bettels wird 
in jenen Gegenden zur Notwendigkeit, in wel- 
chen bei ausgedehnter Industrie die Anhäufung 
des menschlichen Elends und der stete Wechsel der 
Arbeiterbevölkerung eine genaue Überwachung des 
Bettelns unmöglich macht. Ein Almosen aber an 
Arme, die durch Unterstützung nur in ihrem Müßig- 
gang bestärkt werden, ist unrecht. Freilich zieht das 
Bettelverbot die Pflicht der Obrigkeit nach sich, 
den Armen die nötige Unterstützung zu sichern. 
Ohne diese Vorsorge wäre jenes Verbot unbillig. 
Armenpflege. 
  
Verbote, die das Almosen geben unterdrücken 
wollten, würden die Betätigung der Nächstenliebe 
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diese eine ihnen zugewiesene, dem Aufwand für ihre 
Verpflegung ungefähr entsprechende Arbeit ver- 
richten. Die Station soll die Herberge sein, die 
den Arbeitsuchenden bei seinem Wanderleben auf- 
nimmt und die er baldmöglichst wieder verlassen 
soll, um dahin zu wandern, wo er wirklich Arbeit 
finden kann. Sollen die Stationen eine intensive 
Wirksamkeit entfalten, so dürfen sie allerdings 
nicht vereinzelt auftreten, sondern ein ganzes Netz 
derselben muß planmäßig über das Land derart 
verteilt sein, daß jeder arbeitsuchende Wanderer 
etwa im Abstand eines Tagemarsches eine solche 
Station erreichen kann. 
Während in den Naturalverpflegungsstationen 
schädigen, ohne doch durchführbar zu sein. Unter nur ein kurzweiliger, täglich wechselnder Passanten- 
den Namen Armenvereine, Antibettelvereine sind verkehr stattfindet, wenden die ihnen verwandten 
Vereinigungen verbreitet, deren Mitglieder das, 
was sie zu Almosen bestimmen, dem Verein zahlen, 
dagegen zu Hause nichts verabreichen. — Die 
Obrigkeit ist berechtigt, arbeitsfähige Arme zur 
Arbeit zu zwingen; denn wer öffentliche Unter- 
stützung empfängt, den ist die Armenverwaltung 
in seiner persönlichen Freiheit zu beschränken und, 
wenn möglich, zur Arbeit zu nötigen berechtigt. 
Weigert er sich, so ist er strafbar. Da Freiheits- 
strafen nicht eindringlich genug wirken, greift 
man zum Mittel der Zwangsarbeitshäuser. 
Diese Armenarbeitshäuser dürfen nicht verwechselt 
werden mit den als Strafanstalten dienenden Ar- 
beitshäusern, die zur Verbüßung der korrektionellen 
Arbeiterkolonien ihren Schützlingen eine 
Fürsorge von längerer Dauer zu. Sie sind land- 
wirtschaftliche Kolonien, welche arbeitsfähigen und 
arbeitswilligen Leuten, die augenblicklich keinen 
Erwerb finden können und daher der Wander- 
bettelei anheimzufallen drohen, im landwirtschaft- 
lichen Betrieb Beschäftigung gewähren und zwar 
so lange, bis sie anderwärts lohnende Arbeit fin- 
den, wozu ihnen die Hand geboten wird. Sie 
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beoien arbeitslosen und verkommenen Menschen 
  
Gelegenheit zur Rehabilitierung bieten und sie 
wieder als tüchtige und ehrenhafte Glieder der 
menschlichen Gesellschaft zuführen. Das Haupt- 
ziel ist vor allem auf die dauernde sittliche 
  
Nachhaft bestimmt sind. Die Armenarbeitshäuser Hebung der Kolonisten gerichtet und daher der 
haben den Nachteil, daß die aus ihnen entlassenen Aufenthalt in den Arbeiterkolonien von vornherein 
Personen mit einem Makel behaftet sind, der es auf eine längere Dauer berechnet. Das durch 
ihnen erschwert, in ehrliche Arbeit zu kommen. Es strenge Hausordnungen geregelte Leben in den 
ist daher billig, unter den Wanderbettlern, Vaga= Kolonien beruht durchweg auf christlicher, in 
bunden zwischen Arbeitsscheuen und Beschäfti= manchen Fällen auch auf ausgeprägt konfessioneller 
gungslosen zu unterscheiden. Dieses Bestreben hat Grundlage, da erfahrungsgemäß eine intensive 
beim Anwachsen der arbeitslosen Arbeitsfähigen religiöse Einwirkung sich am ehesten in den Formen 
zu verschiedenen Unternehmungen, die hier erwähnt eines besondern religiösen Bekenntnisses erzielen 
seien, geführt. Der Deutsche Verein für Armen= läßt. Die Vergütung für die geleisteten landwirt- 
pflege, der sich die Zusammenfassung der zerstreuten schaftlichen Arbeiten wird erheblich niedriger ge- 
Reformbestrebungen zur Aufgabe macht, hat sich halten als der ortsübliche Taglohn. Bevorzugt 
bereits auf dem Dresdener Kongreß von 1883 werden bei der Aufnahme diejenigen, welche in 
im nachfolgenden Sinn ausgesprochen: Ohne dem 1 den betreffenden Landesteilen Heimat= oder Unter- 
Armen ein Recht auf Arbeit zuzugestehen, möge stützungswohnsitz haben. Gegründet und unter- 
ihm doch Gelegenheit zur Arbeit geboten werden. halten werden die Arbeiterkolonien durch freie 
Entweder solle ihm direkt Arbeitsgelegenheit be= Vereinstätigkeit unter Unterstützung durch öffent- 
schafft werden, oder es seien Nachweise über sonst liche Mittel. Sehr erfolgreich war insbesondere 
vorhandene Arbeitsgelegenheit an bestimmten der Versuch, in mehreren der speziell katholischen 
Stellen zu sammeln. Von umherziehenden Armen Kolonien die Leitung katholischen Ordensleuten 
sei eine Arbeitsleistung zu verlangen. Wenn dem zu übertragen, schon mit Rücksicht auf die als 
Armen nicht eine erlernte, geläufige Arbeit zu= Hauptziel erstrebte moralische Einwirkung auf die 
gewiesen werden kann, müsse die Arbeit derart Kolonisten. So wurde z. B. mit der Leitung der 
sein, daß sie ohne längere Anleitung von jedem von dem Verein für katholische Arbeiterkolonien 
ausgeführt werden könne. In dieser Richtung ver= in Westfalen im Jahr 1888 gegründeten Arbeiter- 
dienen die Naturalverpflegungsstationen kolonie Maria-Veen der Trappistenorden betraut. 
in Verbindung mit Arbeitsnachweisstellen genannt Die Tatsache, daß die Pfleglinge der Arbeiter- 
zu werden. Sie verfolgen den Zweck, mittellosen, kolonien zu einem großen Teil aus wiederholt 
aber arbeitsfähigen und arbeitswilligen Wan= Bestraften bestehen und sich überhaupt vielfach 
derern Verpflegung (Kost und Nachtlager) zu ge= aus Elementen zusammensetzen, bei denen von 
währen, aber nur unter der Voraussetzung, daß unverschuldeter Notlage nicht die Rede sein kann,
	        
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