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läßt es begreiflich erscheinen, daß es sehr schwer
fällt, ihnen nach Ablauf der Aufenthaltsfrist in
den Kolonien geeignete Arbeitsstellen zu ver-
schaffen.
Eine schwierige Aufgabe ist der öffentlichen
Armenpflege gestellt, wenn ganze Klassen der Be-
völkerung aus Mangel an Arbeit der Armut
verfallen. Naturereignisse, unglückliche Kriege,
Mißernten sind als Ursachen davon zu nennen,
aber sie sind nicht die einzigen Ursachen. Wichtiger
noch ist die ganze Art der modernen industriellen
Entwicklung, die Verwertung des maschinellen
Fortschritts in der Form des Fabrikbetriebs, die
Auflösung aller industriellen Genossenschaften und
Handwerkerzünfte, die Verdrängung des Hand-
werks durch den Großbetrieb, die zunehmende
Beweglichkeit der Bevölkerung und der Übergang
zur Geldwirtschaft, wodurch mit der Unsicherheit
des Erwerbs und der Häufigkeit der Produktions-
und Absatzkrisen die Gefahr der Verarmung wuchs
und die an die öffentliche Armenpflege gemachten
Ansprüche stiegen. Auf dem platten Land hat die
moderne Agrargesetzgebung die Lage der Armen
gewiß nicht erleichtert. In Deutschland hat die
Gesetzgebung die Gemeindegründe fast überall
verteilt, gemeinsame Nutzungsrechte abgelöst oder
einfach beseitigt, kurz, dem Streben nach größt-
möglicher Steigerung der Gesamtproduktion die
Verteilung der Erträgnisse auf breiterer Grund-
lage geopfert. Namentlich der Umstand charak-
terisiert die moderne Armenfürsorge, daß eine
große und jährlich stärker anschwellende Menschen-
klasse, die ausschließlich von ihrer täglichen Hände-
arbeit lebt, fortdauernd vor dem absoluten Nichts
steht, falls persönliche Unglücksfälle, wirtschaft-
liche Krisen ihnen, wenn auch nur auf kurze Zeit,
die Arbeit nehmen. Die Bekämpfung dieser dritten
Gattung (der Massenarmut, wirtschaftlichen Ar-
mut) geht über das, was man gewöhnlich unter
Armenpflege versteht, hinaus. Man betritt da-
mit das Gebiet der sozialen Frage, die man
nicht als Armenfrage, sondern als Rechtsfrage
wird behandeln müssen. Ee ist ein kolossaler Fort-
schritt, daß wir in der sozialen Gesetzgebung
(Versicherungsgesetze) eine rechtliche Ordnung der
vorbeugenden und heilenden Fürsorge besitzen.
V. Geschichtliches. In Bezug auf das
Armenwesen wird man nicht umhin können, den
vorklassischen Völkern ein günstigeres Zeugnis
auszustellen als der vielgerühmten Antike. Ins-
besondere war die orientalische Sklaverei milde,
und die Religion behielt einen größeren Einfluß
auf das öffentliche Leben. Die griechischen
Bürgerunterstützungen hatten ihren Grund we-
niger in Humanität und Nächstenliebe als in der
Staatsauffassung. Auch die römischen Getreide-
verteilungen hatten den Charakter einer politischen
Maßregel: Verhütung von Volksaufständen, Er-
haltung der Dynastie auf dem Thron. Besondere
Erwähnung verdient in der vorchristlichen Zeit
die mosaische Gesetzgebung. Es war Staats-
Armenpflege.
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gesetz der Theokratie Israel: „Kein ganz Armer
und Bettler finde sich unter euch“ (5 Mos. 15, 4).
Dafür war durch die gesamte Verteilung des Lan-
des und seiner Erträgnisse gesorgt, so daß gewisse
Almosen den Besitzenden als Rechtspflicht auf-
erlegt waren und der Arme sie als ein ihm von
Gott zugewiesenes Eigentum beanspruchen konnte.
Der Reiche war zu unverzinslichen Darlehen ver-
pflichtet. Es bestand ein Rückkaufsrecht verkaufter
Ackerlose. Im schlimmsten Fall fielen sie im
Jubeljahr an die Familie zurück. Im Christen-
tum fand die Armenpflege belebende Kraft durch
die Lehre vom gemeinschaftlichen Ursprung des
Menschengeschlechts, von dem nur lehnsweise
dem Menschen überlassenen Besitz irdischer Gü-
ter, von der Notwendigkeit der guten Werke,
von der Gleichsetzung der dem Armen gereichten
Liebesgabe mit einem dem Heiland selbsterwiesenen
Dienst. Die Kirche achtete die Würde der Armen
so, daß sie für ihren Dienst ein eigenes Amt, das
der Diakonen, errichtete, welche die Almosen beim
heiligen Opfer in Empfang nahmen und als
Gottesgaben an die Bedürftigen verteilten. Der
christliche Staat erkannte endlich seine Verpflich-
tung, dem Elend der Armen und Hilfsbedürftigen
abzuhelfen, und entsprach dieser Aufgabe vorzüglich
dadurch, daß er die bereits bestehende kirchliche
Armenpflege zu fördern suchte. Die von den Bi-
schöfen seit den ältesten Zeiten geübte und organi-
sierte Armenpflege rief schon im 4. Jahrh. die
Gründung der Armen= und Krankenhäuser her-
vor, die teils von der Kirche selbst errichtet, teils
von den Kaisern und Privatpersonen auf Veran-
lassung der Kirche gestiftet wurden und unter kirch-
licher Verwaltung und Aufsicht standen. Aus dem
Orient verbreiteten sich diese Anstalten im 5. und
6. Jahrh. auch im westlichen Europa. Bis ins
12. Jahrh. hinein waren in diesen Anstalten meh-
rere Zweige der Armenpflege vereinigt, nämlich:
Pflege der Kranken, Beherbergung von Fremden,
Aufnahme von obdachlosen Armen, Erziehung
von Waisen und Findelkindern — welche Vereini-
gung allerdings den Grundsätzen einer rationellen
Armenpflege widerspricht. Ein Beschluß des Kon-
zils von Tours führte 567 die Verpflichtung der
Gemeinde zur Erhaltung ihrer Armen — und
damit eine dezentralisierte Armenpflege ein. Die-
selbe Verpflichtung enthält auch ein Kapitulare
Karls d. Gr. vom Jahr 806. Nach einer andern
Vorschrift desselben Regenten sollte ein Viertel
der Kircheneinkünfte oder doch des Zehnten, der
an die Kirche entrichtet werden mußte, für die
Armen verwendet werden. Auf den Benefizial-
gütern richtete Karl d. Gr. eine eigene Armen-
pflege ein und befahl allgemein den Grundherren,
Sorge zu tragen, daß keiner der auf ihrem
Grund und Boden sitzenden Hintersassen aus
Mangel an Existenzmitteln verkomme. So er-
hob er die in der herrschenden Rechtsanschauung
schon bestehende Verpflichtung des Grundherrn
zur Armenpflege zu einer gesetzlichen Verpflichtung.