Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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war. Zur politischen Notwendigkeit und zur 
Möglichkeit staatlicher Armensorge kam mit der 
Reformation noch eine moralische Verpflichtung, 
indem Heinrich VIII. den größten Teil des Kir- 
chenvermögens teils einzog teils den Baronen 
überwies. 
Zu den Ländern, in denen sich mit der Refor- 
mation und mit der Einziehung der Kirchengüter, 
welche meist im Interesse der Fürsten erfolgte, die 
Lage der armen Bevölkerungsklasse verschlimmerte, 
gehört auch Deutschland. Namentlich mit der 
Aufhebung der Klöster war eine der wichtigsten 
Quellen, aus denen bisher die Armen ihren Le- 
bensunterhalt schöpften, versiegt. Schon der Reichs- 
tag von Lindau 1497 hatte ermahnen müssen, 
„nur schwachen Personen das Betteln zu gestatten“. 
Hernach verallgemeinerte die Reichspolizeiordnung 
von 1530 (und spätere) die eingetretene Not- 
wendigkeit der kommunalen Armenunterstützungs- 
pflicht. Jede Stadt und Kommune soll ihre Armen 
selbst ernähren und erhalten. Nur wenn sie dazu 
nicht imstande ist, darf sie Arme „mit einem brief- 
lichen Schein in ein ander Amt fördern“. Die Lan- 
desgesetze des 16. und 17. Jahrh. wiederholten jene 
Unterstützungspflicht, und seitherist die Armenpflege 
ein regelmäßiger Gegenstand der Gemeindeverwal- 
tung. Die weltliche Gemeinde mußte die Kosten 
der Armenpflege aufbringen. Die Verteilung ge- 
schah durch die Organe der politischen Gemeinde, 
aber lange Zeit in engster Verbindung mit den 
Vorstehern der Kirchengemeinde. Eine der ältesten 
Armenordnungen dieser Art ist die des gemeinen 
Kastens zu Leisnig 1523. In den von Bugen- 
hagen entworfenen Kirchenordnungen wurden 
Kirchen= und Armenfonds getrennt. — Auch auf 
katholischer Seite machte sich den geänderten Ver- 
hältnissen, der gewachsenen und gemischten, wirk- 
lichen und mißbräuchlichen Armut gegenüber das 
Bedürfnis entsprechender Organisation und schär- 
ferer Aufsicht geltend. Dies geschah zuerst in den 
industriell so hoch entwickelten Niederlanden, in 
welchen ebenfalls die unheildrohende Spannung 
zutage trat, welche sich in den ersten Jahrzehnten 
des 16. Jahrh. allenthalben in Kirche und Staat 
als Vorbote der religiösen und sozialen Umwälzung 
fühlbar machte. Naturgemäß äußerte sie sich nicht, 
wie in Deutschland, bei der bäuerlichen Bevölkerung 
des Landes, sondern bei den unteren Schichten der 
volkreichen Städte. Die Armut flüchtete sich zu 
diesen Sitzen der Industrie, wo reiche Stiftungen 
ergiebige Unterstützung versprachen, aber schließ- 
lich doch eine strengere Organisation nötig wurde. 
Unabhängig von der Reformation entstand 1524 
die rühmenswerte Yperner Pflegeordnung. Auf 
Grund derselben ließ Karl V. die Armengesetz- 
gebung ausarbeiten, welche er am 6. Okt. 1531 
für die ganzen Niederlande erließ. — Durch die 
im 16. und 17. Jahrh. immer allgemeiner aus- 
gesprochene Verpflichtung der Gemeinden, im 
Fall der Verarmung die Angehörigen zu unter- 
stützen, hat sich der Begriff der Gemeindeangehörig- 
Armenpflege. 
  
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keit immer schärfer ausgebildet. Die Städte 
waren aus Furcht vor Konkurrenz und Übersetzung 
der Gewerbe mehr und mehr veranlaßt, die Frei- 
zügigkeit zu beschränken, die Erlangung des Bürger- 
rechts, das auf bürgerliche Nutzung und bürger- 
liche Nahrung Anspruch gab, zu erschweren, den 
Zuzug Fremder durch Einzugsgelder zu ver- 
ringern, die Eheschließung der Einheimischen zu 
überwachen. Höchstens daß der Landesherr sich 
das Recht vorbehielt, auch gegen den Willen der 
Gemeinde das Wohn= und Bürgerrecht zu ver- 
leihen. Damit war die Freizügigkeit, welche das 
deutsche Arbeitsrecht des Mittelalters hatte ge- 
währen können, aufgehoben. Solange der arbeits- 
lose Erwerb im Sinn der Kanonisten zurückgedrängt 
wurde, war eine „Übersetzung“ nicht zu fürchten. 
Erst die Art und Weise, wie das heidnische rö- 
mische Recht seit dem 16. Jahrh. gelehrt und ge- 
handhabt wurde, drängte die frühere kanonistische 
Strenge gegen den Eigennutz zurück und öffnete 
die Schleusen des sog. Kapitalismus. Auch auf dem 
Lande mehrte die neue Ordnung der Dinge, 
insbesondere nach den Bauernkriegen, die Ver- 
armung. Der Umstand, daß die Juristen deutsche 
Bauern wie römische Pächter ansahen, förderte 
die Umgestaltung der deutschen Landwirtschaft 
durch Ubergreifen der großen Gutswirtschaften. 
Während der Adel vordem den Beamtenstand 
vertrat, Hof= und Kriegsdienst trieb, verlegten sich 
nunmehr die Besitzer der Herrengüter auf die 
Landwirtschaft und betrieben sie in der Absicht 
des Gelderwerbs. Dies führte zu Arealvergröße- 
rung, Besitznahme von Gemeindeweide und Um- 
land und zum „Bauernlegen“. Der Mißbrauch 
der gutsherrlichen Polizeigewalt und der in den 
Händen der Gutsbesitzer befindlichen Patrimonial= 
gerichtsbarkeit steigerte die hergebrachten Dienste. 
Die Knappheit der Mittel für Verarmte nötigte 
zu größerer Strenge, man wies Ausländer aus, 
Inländer in die Heimat und führte für Einheimische 
den obrigkeitlichen Ehekonsens ein. 
Die großen Ereignisse am Ende des 18. Jahrh., 
die französische Revolution mit den nach- 
folgenden 25jährigen Kriegen und der Umgestal- 
tung in den Eigentums= und Erwerbsverhältnissen, 
die Entwicklung der Industrie mit Maschinen in 
der Form des Fabrikbetriebs, die großen Pro- 
duktionskrisen durch Uberproduktion in einzelnen 
Gewerbszweigen, die Anspannungund Uberreizung 
des öffentlichen und Privatkredits haben die Ver- 
armungsursachen nicht gemindert, sondern gemehrt. 
Die seit Mitte des 18. Jahrh. angebahnte größere 
Freiheit der Bewegung der Bevölkerung steigerte 
die Befürchtung eines allgemeinen starken An- 
wachsens der Armenlast und brachte die deutschen 
Mittel= und Kleinstaaten zu einer energischen Aus- 
bildung des Begriffs „Heimatsrecht“. Schon die 
Befürchtung, daß eine Armenunterstützung not- 
wendig werden könnte, berechtigte die Gemeinde 
zur Ausweisung. Nur das Heimatsrecht gab die 
Befugnis, in der Gemeinde sich aufzuhalten,
	        
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