Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

439 
äußerlich fügten, so fällt dies der überwiegenden 
Anzahl der andern gegenüber nicht ins Gewicht. 
Das allgemeine Gesetz, daß Zuchtmittel, welche 
die Liebe anwenden heißt, zu Heilmitteln werden, 
habe so eine neue Bestätigung gefunden. Wo 
Augustin diesen letzteren Gedanken ausführt, ge- 
schieht es mit der überströmenden Empfindung 
seines großen Herzens. Die Gegner erscheinen ihm 
wie Kranke, die zuerst diejenigen schelten, die ihnen 
Hilfe bringen wollen, nach erfahrener Heilung 
aber ihnen Dank wissen. Gerade darum aber ver- 
langt er, daß man mit der Anwendung der Straf- 
mittel maßhalte: ausdrücklich verwirft er die Ver- 
hängung der Todesstrafen gegen Häretiker (Nullis 
tamen bonis in Catholica hoc placet, si us- 
due ad mortem in quemquam, licet haereti- 
cum, saeviatur. Contra Crescon. III, c. 50; 
ef. Ep. 139 ad Marcellin.). Die Donatisten 
beriefen sich darauf, daß Gott dem Menschen die 
Freiheit gegeben habe, und daher niemand das 
Recht zustehe, sie zur Aufgabe ihrer Meinung zu 
zwingen. Sie werden daran erinnert, daß sie selbst 
wiederholt die Kaiser, ja sogar Julian den Apo- 
staten, zu ihren Gunsten und gegen die Katholiken 
angerufen haben und daher nicht befugt sind, im 
Namen der Freiheit den Zwang zu verwerfen. 
Aber er blieb dabei nicht stehen, sondern unter- 
nahm es, in diametralem Gegensatz zu dem früher 
von ihm vertretenen Standpunkt die Anwendung 
staatlicher Zwangsmaßregeln auf dem religiösen 
Gebiet grundsätzlich zu verteidigen. Im ersten 
der drei Bücher von der Freiheit des Willens hatte 
er die Frage gestreift, warum das menschliche 
Gesetz manches straflos lasse, was das göttliche 
unter Strafe verbiete. Die bezüglichen Stellen 
werden von Thomas von Aquin wiederholt her- 
beigezogen, wo er die gleiche Frage erörtert (S. th. 
1, 2, q. 91, a. 4, c; d. 96, a. 2, auct. et ad 3; 
d. 97, a. 1, auct.); eine erschöpfende Behandlung 
aber findet sich dort nicht. Ansätze zu einer prinzi- 
piellen Lösung sind vorhanden, wenn neben der Auf- 
fassung, wonach das menschliche Gesetz in seiner 
Mangelhaftigkeit hinter dem göttlichen natur- 
gemäß zurückbleibt, auch der andere Gedanke zum 
Ausdruck kommt, das menschliche Gesetz sei vor- 
züglich auf die Erhaltung von Ordnung und 
Frieden im menschlichen Gemeinwesen gerichtet 
(De lib. arbitr. I, c. 5, n. 13; c. 15, n. 32). 
Nunmehr entnimmt er den Büchern des Alten 
und Neuen Testaments eine andere Lehre. Die 
Obrigkeit, führt er aus, ist von Gott. Gott hat 
ihr die Macht gegeben, damit sie das Böse ver- 
hindere, nicht nur dasjenige, welches die mensch- 
liche Gesellschaft, sondern auch solches, was die 
göttliche Religion berührt. Die Obrigkeit würde 
ihre Pflicht vernachlässigen, wollte sie der falschen 
Religion freie Bahn lassen. Vor extremen Maß- 
regeln schreckt er indessen auch jetzt noch zurück. 
Die Anwendung von Zwangsmaßregeln erscheint 
ihm nur solange gut, als den Schuldigen die Mög- 
lichkeit der Umkehr und Besserung bleibt; daher 
Augustinus. 
  
440 
verwirft er die Verhängung der Todesstrafe über 
die irrenden Brüder (Ep. 93 ad Vincentium; 
eep. 105 ad Donatistas; ep. 153 ad Mace- 
donium; ep. 173 ad Donatum; ep. 185 ad 
Bonifacium. Contra ep. Parmeniani 1 10; 
Contra lit. Petiliani II 83 et 84; De unit. 
Ecclesiae c. 20; Contra Crescon. III 51; 
Contra Gaudentium 1, c. 19, u. 20; c. 24, 
n. 27; c. 25, nu. 28; c. 33, n. 43; c. 34, 
n. 44; c. 35, n. 45; II, c. 12). Bei der 
Würdigung dieser veränderten Denkweise wird 
man billig die besondern Umstände und Augustins 
individuelle Erfahrungen und Erlebnisse heran- 
zuziehen haben. Dafür, daß eine spätere Zeit 
seinen aus dem Zusammenhang herausgenom- 
menen und vom zeitgeschichtlichen Hintergrund 
losgelösten Aussprüchen das Gewicht ein für alle- 
mal gültiger Lehrbestimmungen beilegte und durch 
Berufung auf dieselben jedes gewaltsame Ein- 
greifen zugunsten der Kirche und gegen die Häre- 
tiker rechtfertigen wollte, ist er nicht verantwortlich 
zu machen. 
An einem Punkt von grundlegender Bedeutung 
hat Augustin der christlichen Spekulation ein Be- 
standstück zugeführt, welches sie seitdem nicht wieder 
aufgegeben hat. Er hat der Lehre von dem ewigen 
Weltgesetz, die er bei den heidnischen Philosophen 
vorfand, welche insbesondere Cicero in glänzenden 
Worten vorgetragen hatte, den Abschluß und die 
volle Klarheit dadurch gegeben, daß er das Gesetz 
auf den Willen des persönlichen Gottes zurück- 
führt. Er sagt (Contra Faustum XXII 27): 
Lex aeterna est ratio divina vel voluntas 
Dei, ordinem naturalem conservari iubens, 
perturbari vetans („das ewige Gesetz ist die 
göttliche Vernunft oder der Wille Gottes, welcher 
gebietet, die natürliche Ordnung zu wahren, ver- 
bietet, sie zu stören"), und er schiebt so zwischen 
die Ausdrücke, mit denen Cicero den Gedanken 
der stoischen Schule ausgesprochen hatte, als ver- 
stehe es sich ganz von selbst, das neue Wort von 
dem göttlichen Willen hinein. Damit hat er einen 
der Grundmängel der antiken Ethik überwunden 
(s. d. Art. Aristoteles Sp. 370) und die Quelle 
aufgewiesen, aus der sich der gleichbleibende Inhalt 
wie die verbindliche Kraft des Sittengesetzes und 
des natürlichen Rechts ableitet, er hat zugleich den 
unveränderlichen Maßstab bezeichnet, an dem die 
veränderlichen menschlichen Gesetze zu beurteilen 
sind. Nicht alles, was so genannt wird, ist auch 
wirklich Recht (Enarr. in Psalm. 145, 15); ge- 
recht ist nur, was aus dem ewigen Gesetz abge- 
leitet ist (De lib. arbitr. I, c. 6, n. 15); nach 
ihm wird der weise Gesetzgeber sich jederzeit richten 
(De vera relig. c. 31, n. 58); ein ungerechtes 
Gesetz ist kein Gesetz (De lib. arbitr. I, c. 5, n. 11), 
in dem gerechten dagegen befiehlt die Wahrheit 
selbst durch den Mund des Königs;kein Gesetz, das 
dem göttlichen widerspricht, kann verpflichten, viel- 
mehr ist es unerlaubt, ihm zu gehorchen (Ep. 105 
ad Donatistas c. 2, n. 7; ep. 185 ad Boni-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.