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geliefert. Während nun nach den älteren Ausliefe-
rungsverträgen und noch nach dem von der fran-
zösischen Republik am 4. Vendémiaire XII zwischen
Frankreich und der Schweiz abgeschlossenen Aus-
lieferungsvertrag die Auslieferung auch wegen
crimes T'stat zu erfolgen hatte, wurde seit der
Julirevolution die Nichtauslieferung politischer
Verbrecher zu einem festen Rechtsgrundsatz erhoben.
Ein belgisches Gesetz vom 1. Okt. 1833 bestimmte
zuerst, daß kein Fremder wegen eines der Aus-
lieferung vorhergehenden politischen Delikts oder
wegen einer demselben konnexen Handlung bestraft
oder verfolgt werden solle. Danach ging dieser
Rechtsgrundsatz in den 1834 zwischen Frankreich
und Belgien abgeschlossenen Auslieferungsvertrag
über. Doch hat weder Frankreich noch Belgien
daraus die Konsequenz gezogen, daß den politischen
Flüchtlingen auf ihrem Gebiet ein unbeschränktes
Asylrecht zu gewähren sei. Dieselben können viel-
mehr interniert und ausgewiesen werden. Wäh-
rend sich nun in Frankreich die Ansicht ausbildete,
daß eine Auslieferung nur stattzufinden habe,
wenn die Pflicht dazu vertragsmäßig begründet
sei, und daß wegen der in den Auslieferungsver-
trägen nicht aufgeführten Delikten eine Aus-
lieferung unstatthaft sei, bildete sich in einzelnen
deutschen Staaten die umgekehrte Praxis aus,
Fremde, welche sich im Ausland eines der Ko-
gnition der eigenen Gerichte nicht unterliegenden
Verbrechens schuldig gemacht hatten, auch ohne
vertragsmäßige Verpflichtung auszuliefern. Doch
war diese Auslieferungspflicht nicht einmal zwischen
den zum Deutschen Reich gehörigen Staaten
durchweg anerkannt. Die Militärkonvention des
Jahrs 1832 verpflichtete die deutschen Bundes-
staaten zur gegenseitigen Auslieferung der Militär-
deserteure und der Bundesbeschluß vom 18. Aug.
1836 zur Auslieferung der Staats= und poli-
tischen Verbrecher. Der Bundesbeschluß vom
26. Jan. 1854 legte sodann sämtlichen deutschen
Bundesstaaten die Pflicht auf, Individuen, welche
wegen anderer als politischer Verbrechen und
Vergehen (mit Ausschluß der Abgabendefrauda-
tionen und der Übertretungen der Polizei= und
Finanzgesetze) von einem Gericht desjenigen Staa-
tes, in welchem oder gegen welchen das Verbrechen
oder Vergehen begangen worden, in Anspruch ge-
nommen wurden, diesem Staat auszuliefern. Aus-
genommen waren die eigenen Angehörigen des
requirierten Staats.
Durch das Rechtshilfegesetz vom 21. Juni 1869
und das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz vom
27. Jan. 1877 ist unter den zum Deutschen
Reich gehörigen Staaten einschließlich Elsaß-
Lothringens eine unbeschränkte Ablieferungspflicht,
und zwar nicht nur bezüglich der Untertanen des-
jenigen Staats, in welchem das Verbrechen be-
gangen worden ist, sondern auch bezüglich der
Untertanen des requirierten Staats begründet.
Für die Aburteilung der im Reichsgebiet be-
gangenen Delikte ist ohne Rücksicht auf die Staats-
Auslieferung.
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angehörigkeit des Täters der Gerichtsstand sowohl
bei demjenigen Gericht begründet, in dessen Be-
zirk die strafbare Handlung begangen ist, als auch
bei demjenigen, in dessen Bezirk der Angeschuldigte
zur Zeit der Erhebung der Klage seinen frei-
willigen Wohnsitz, oder falls er einen Wohnsitz
im Deutschen Reich nicht hat, seinen gewöhnlichen
Aufenthaltsort, und wenn ein solcher nicht bekannt
ist, seinen letzten Wohnsitz hatte. Dem Ersuchen
dieser Gerichte um Ergreifung und Ablieferung
von Verbrechern zur Strafverfolgung haben sämt-
liche Gerichte im Deutschen Reich zu entsprechen.
Auch sind die Sicherheitsbeamten eines Bundes-
staats berechtigt, die Verfolgung eines Flüchtigen
auf das Gebiet eines andern Bundesstaats fort-
zusetzen und den Flüchtigen daselbst zu ergreifen.
Der Ergriffene ist dann unverzüglich an das
nächste Gericht oder die nächste Polizeibehörde des
Bundesstaats, in welchem er ergriffen wurde, ab-
zuführen.
Für den Rechtsverkehr mit den außerdeut-
schen Staaten gilt der Grundsatz Frankreichs,
daß die Auslieferung von Ausländern an aus-
wärtige Regierungen zum Zweck der Strafver-
folgung stattfindet, wenn und insoweit die Aus-
lieferungspflicht vertragsmäßig begründet ist. In
gleicher Weise liefern England und die Vereinigten
Staaten von Amerika, welche die Strafgerichts-
barkeit auf die im Inland begangenen strafbaren
Handlungen beschränken, im Ausland begangene
Vergehen vor ihren Gerichten völlig ignorieren und
deshalb keinen Ausländer wegen eines im Aus-
land verschuldeten Delikts den Eintritt in ihr
Gebiet verwehren, auf ihr Gebiet geflohene Aus-
länder an deren Heimatsstaat zum Zweck der
Strafverfolgung oder der Strafvollstreckung nur
aus, wenn die Auslieferungspflicht durch einen
speziellen Akt der Gesetzgebung oder durch einen
völkerrechtlichen Vertrag begründet ist. Aus-
lieferungsverträge hat das Deutsche Reich ab-
geschlossen: mit den Vereinigten Staaten am
22. Febr. 1868; mit Italien am 31. Okt. 1871;
mit Frankreich am 11. Dez. 1871; mit Groß-
britannien am 14. Mai 1872; mit der Schweiz
am 24. Jan. 1874; mit Belgien am 24. Dez.
1874; mit Luxemburg am 9. März 1876; mit
Brasilien am 17. Sept. 1877; mit Schweden-
Norwegen am 19. Jan. 1878; mit Spanien am
2. Mai 1878; mit Uruguay am 12. Febr. 1880;
mit Serbien am 6. Jan. 1883; mit Rußland am
13. Jan. 1885; mit Transvaal am 22. Jan. 1885;
mit Colombia am 23. Juli 1892; mit dem
Kongostaat am 2. Mai 1890; mit Japan am
4. April 1896; mit den Niederlanden am 31. Dez.
1896; mit den niederländischen Kolonien für die
deutschen Schutzgebiete am 21. Sept. 1897; mit
Griechenland am 12. März 1907. Mit Osterreich
gelten die alten Verhältnisse. Soweit nicht das
Reich eigene Verträge abgeschlossen hat, gelten die
von den Einzelstaaten abgeschlossenen Verträge
sowie deren Gesetze fort.