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Ausnahmegesetze.
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ging dabei von der Ansicht aus, daß Notstand motrecht enger, andere weiter fassen; letztere sehen
und Ausnahmeverhältnisse, unter denen das für dann als Ausflüsse des Staatsnotrechts oder ius
die friedliche Entwicklung berechnete Gesetz un-
anwendbar wird, vorauszusehen seien und z. B.
eine vorübergehende Beschränkung der staats-
bürgerlichen Freiheit gestattet sein müsse. Man
zog es vor, das Recht der Ausnahmegesetzgebung
von vornherein zu sanktionieren, um in den Stand
gesetzt zu sein, dasselbe mit einigen Kautelen zu
umgeben und eventuellem Mißbrauch Schranken
zu ziehen. Eine solche öfters genannte Schranke ist
die auferlegle Pflicht, baldmöglichst die regelmäßi-
gen Orgäne der Gesetzgebung zu berufen und ihnen
die Beurteilung der Maßregeln anheimzugeben.
3. Zweiter Fall: Der Ausnahmezustand ist
durch die Verfassung nicht vorgesehen (Staats-
notrecht). Wo durch die Verfassung Ausnahme=
fälle nicht vorgesehen sind, wo dieselbe uber die
Frage der Ausnahmegesetze stillschweigend hinweg-
geht, wird das Gebot der Notwendigkeit unter
Umständen und in Zeiten höchster Not und tiefster
Erschütterung, wo das Gemeinwesen feindliche
Kriegsmächte bedrängen oder innere Parteikämpfe
und revolutionäre Leidenschaften es zerfleischen,
wo sich das Bedürfnis nach einer vorübergehend
absoluten Herrschaft, das Verlangen nach einer
Diktatur, nach einer rücksichtslos rettenden Macht
einstellt, die zur höchsten Konzentration und
äußersten Anspannung aller öffentlichen Gewalt
genötigt ist, um das Vertrauen zu rechtfertigen,
das in der allgemeinen Gefahr von der Kraft der
leitenden Hand Hilfe erwartet und über die Be-
denken hinweghilft, welche sich gegen jede Dik-
tatur erheben, — von selbst zu Ausnahmegesetzen
führen. Diese auf das Wesen des Staates direkt
zu bauende Ausnahmegewalt des Staatsober-
haupts, das Ausnahmerecht desselben, welches
darin besteht, daß das Staatsoberhaupt berufen
ist, in jenen Fällen dringender Gefahr und äußerster
Notlage die von unersetzbarem Verderben bedrohten
wesentlichen Interessen des Gemeinwesens ganz
selbständig in Schutz zu nehmen, pflegt man
Staatsnotrecht zu nennen. Wie oft auch
das Wohl des Staates lediglich als Vorwand hat
dienen müssen, im Prinzip läßt sich die Befugnis
der Staatsgewalt zu diesem Akt ebensowenig be-
streiten wie etlwa das Recht des Schiffers zum sog.
Seewurf (lex Rhodia de iactu). Es ist das
mit dem Notstand gegebene Notrecht. Denn
wenn die Verhältnisse sich so gestalten, daß die
Staatsgewalt sich vor die Alternative gestellt sieht,
entweder positive Rechte einzelner oder die Gesell-
schaft preiszugeben, kann sie, wenn die Existenz
und Sicherheit des Staates dies erfordert, be-
sugt, ja verpflichtet sein, die rechtlichen Schranken
zu durchbrechen und die Gesellschaft zu retten (sog.
rettende Tat). Natürlich ist nicht jedes Erzeugnis
der Ausnahmegewalt ein Ausnahmegesetz, es
gehen aus ihr ebenso oft einfache Regierungshand-
lungen hervor. Erklärend möge hier bemerkt sein,
daß einige Staatsrechtslehrer den Begriff Staats-
eminens auch solche außerordentliche Befugnisse
der staatlichen Organe an, welche auf einer gesetz-
lichen Grundlage beruhen, z. B. das Enteignungs-
recht, die Verkündigung des Belagerungszustands,
die sog. provisorische Gesetzgebung (Notverord=
nungen, s. oben unter Nr 2). Provisorisch werden
übrigens auch jene Gesetze genannt, welche ganz
normal, jedoch nur vorläufig gegeben werden,
wiez. B. Gesetze über die vorläufige Forterhebung
der Steuern, die von den gesetzgebenden Körpern
erlassen werden, wenn sich die Erledigung des
Budgets verzögert. Solche Gesetze sind jedoch
keine Ausnahmegesetze, sondern gehören nach In-
halt und Form ihrer Entstehung ganz dem Be-
reich des normalen Rechts an.
4. Beurteilung der Ausnahmegesetze. Eine
förmliche Theorie der ausnahmsweisen Verfü-
gungen der Staatsgewalt, für die schon die rö-
mische Geschichte in der Ernennung eines Dik-
tators und im senatus consultum: videant
consules usw. Beispiele bietet, läßt sich wohl
kaum aufstellen; man wird sich beschränken müssen,
auf einige naheliegende Erwägungen hinzuweisen,
die sich aus der Natur der Grundlage der Aus-
nahmegesetze, aus der Natur des Ausnahmezu-
stands nämlich, ergeben. So die Erwägung, daß
nach allgemeinen Grundsätzen zu schärferen Maß-
regeln erst dann geschritten werde, wenn die ge-
linderen nicht verfangen, es sei denn daß deren
Nutzlosigkeit und doch damit verbundener Zeit-
verlust voraussichtlich ist. Demnach sollen die
bürgerlichen Verhältnisse von Einmischung der
Kriegsgewalt so lange verschont bleiben, als nicht
die Rechtsordnung in der Art gewaltsam ange-
griffen oder bedroht wird, daß die gewöhnlichen
Mittel zum Schutz derselben nicht mehr genügen.
Ferner ist zu beachten, daß die zu ergreifenden
Mittel, wie Suspension oder Aufhebung politischer,
Verletzung von Privatrechten, verschieden emp-
unden werden. Das Verbot von politischen Ver-
sammlungen und Vereinen, Suspension der Preß-
reiheit, Anordnung außergewöhnlicher Gerichte
werden, eben weil die Not zunächst politischer
Natur ist, eher gerechtfertigt erscheinen als Ver-
letzung des Privateigentums, Beschränkung von
Verkehr und Privatfreiheit. Eine wichtige Eigen-
schaft der Ausnahmegesetze ist endlich die zeit-
liche Beschränkung; ein dauernder Ausnahme-
zustand wird zur Regel (s. über materielles Aus-
nahmerecht unter Nr II). Ausnahmegesetze der in
Rede stehenden Kategorie sind auf einen vorüber-
gehenden, den gewöhnlichen Legislationsgang
überholenden Ausnahmezustand berechnet und
zeitlich auf die Dauer desselben beschränkt. Der
durch sie in die rechtliche Ordnung der Gesetz-
gebung gemachte Bruch drängt nach baldmöglicher
Sühnung durch Beseitigung oder Bestätigung.
5. Einzelne Ausnahmegesetze, insbesondere der
Belagerungszustand. Einer der wichtig-