Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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gesetz und gemeines Recht einander gegenüberstellen, 
wenn nicht die Genesis, die Art des Zustande- 
kommens, sondern der Inhalt der Normen ins 
Auge gefaßt wird. Es gibt im regulär zustande 
gekommenen, allgemein anerkannten Recht Be- 
stimmungen, die eine Ausnahme von sonst gül- 
tigen Regeln enthalten. In diesem Sinn heißt 
Ausnahmegesetz eine gesetzliche Bestimmung, die 
einer andern ihrem Inhalt nach im Verhältnis 
der Ausnahme zur Regel gegenübersteht: regel- 
widriges, singuläres, anomales, im Gegensatz zu 
regelmäßigem Recht (ius singulare — ius com- 
mune). Jedes positive Recht geht von Grund- 
sätzen (Rechtsprinzipien) aus, welche durch die 
Weise, wie es den Rechtsbegriff auffaßt, gebildet 
werden. Diese Prinzipien und ihre Konsequenzen 
bilden das ius commune, das grundsätzliche, prin- 
zipielle, konsequente Recht, d. h. den Inbegriff der 
Rechtssätze, welche der ratio iuris, dem tenoriuris, 
d. h. eben dem Rechtsbegriff, wie ihn das posi- 
tive Recht auffaßt, entsprechen. Hie und da aber 
macht das positive Recht gleichsam einen Bruch in 
das, was aus seinen Prinzipien folgen soll. Es 
beruht somit die bei weitem überwiegende Masse 
von Rechtssätzen auf logischer und analogischer 
Fortentwicklung der Grundbegriffe des betreffen- 
den Rechts; ein immerhin noch beträchtlicher Teil 
aber ist außer diesem System der Hauptmasse und 
gegen dasselbe in Geltung gekommen — ein be- 
trächtlicher Teil, denn es wird z. B. wenig Ver- 
bote oder Gebote ohne irgend welche Ausnahme 
geben. Schon die allgemeinen Gründe aufgeho- 
bener Rechtswidrigkeit, wie Notwehr, Notstand, 
bindender Befehl, stellen sich als ebensoviele all- 
gemeine, d. h. alle Normen durchbrechende Aus- 
nahmen derselben dar. 
2. Relativität des Ausnahmerechts. Da die 
Grundprinzipien verschiedener Rechtssysteme — 
bis zu einem gewissen Grad — verschieden sind, ist 
auch das Verhältnis von Regel und Ausnahme, 
das sich danach richtet, ein verschiedenes. Es ist 
relativ in Bezug auf verschiedene Rechtssysteme, 
relativ in Bezug auf die Entwicklungsphasen ein 
und desselben Rechts (b), relativ sogar in ein 
und demselben gegebenen positiven Recht (a). 
a) Ein Rechtssatz nämlich, für sich betrachtet, 
ist weder konsequent noch inkonsequent; entschei- 
dend ist sein Verhältnis zu einem höheren Rechts- 
satz, je nachdem er eine Anwendung dieses letzteren 
ist oder ihm ausnahmeartig gegenübersteht. Ein 
Rechtssatz kann nach der einen Seite Regel, nach 
der andern Ausnahme sein, oder mit andern 
Worten: das Ausnahmerecht hat selbst wieder 
seine ratio und kann in seiner konsequenten An- 
wendung durch eine Ausnahme unterbrochen wer- 
den, die dann durchaus nicht immer (wieder) mit 
dem gemeinen Recht zusammenfallen muß. — 
b) Das Verhältnis von Ausnahme und Regel ist 
ferner relativ in geschichtlicher Hinsicht, es ist 
in ein und demselben Recht nicht immer gleich 
und unverändert geblieben. Manches z. B., was 
Ausnahmegesetze. 
  
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lange durch Privilegium (s. unter Nr 3) geregelt 
wurde, kann allmählich der Reglung durch ius 
singulare oder gar durch ius commune unter- 
worfen werden. Ein Sat, der ursprünglich gegen 
die Grundprinzipien und Ursatzungen ausgekom- 
men, kann sich zu einer Ursatzung emporringen. 
Umgekehrt, was in einem gegebenen Zeitpunkt 
normales Recht war, kann im Lauf der Zeit 
anomales Recht werden, Man denke an das 
ursprünglich ganz normale Recht adliger Steuer- 
freiheit. In dieser Hinsicht scheint das ius sin- 
zulare den Weg zu bilden, auf dem Rechtssysteme 
ineinander übergehen. Die Trümmer der alten 
deutschen Rechtszustände mit ihren scharf aus- 
geprägten Ständerechten fanden in der Zeit des 
Absolutismus notdürftig, d. h. soweit dieser sie 
überhaupt anerkannte, im ius singulare Zuflucht 
und wurden — gewiß nicht ohne Mitschuld der 
Beteiligten — nur mehr als Sonderrechte oder 
gar als Privilegien geduldet. Der im jus singu- 
lare enthaltene Rechtsstoff war in jener Zeit so 
überwiegend identisch mit dem Recht einzelner 
Klassen (Klerus, Adel, Bürger, Bauer), daß die 
ältere Theorieius singulare geradezu mit „Stände- 
recht“ identifizierte. Heutzutage sind die Stände 
der Rechtsgeschichte zugewiesen und die „Privi- 
legien“ der Immunität der Geistlichkeit, des be- 
sondern Gerichtsstands des Adels, der Gewerbe- 
monopole usw. gefallen. Nur Beamte und Mili- 
tär, diese jüngeren, erst mit dem Absolutismus 
gediehenen Stände, erfreuen sich noch eines ge- 
wissen ius singulare. 
3. Arten des Ausnahmerechts. Ausnahme- 
oder Sonderrecht (äus singulare) und Privi- 
legium (im weiteren Sinn) werden oft gleich- 
wertig gebraucht. Es empfiehlt sich jedoch, den 
Unterschied festzuhalten, ob das anomale Recht 
Ausnahmen für alle Individuen, falls sie sich in 
einer bestimmten Lage befinden, oder doch für ge- 
wisse Kategorien von Individuen und Verhält- 
nisse (ius singulare) oder nur für konkrete Ver- 
hältnisse einzelner Individuen statuiert (privile- 
gium im engeren Sinn). Es verhalten sich nämlich 
die Privilegien zum ius singulare gleichwie in- 
dividuelle Ausnahmen von der Rechtsordnung 
zu Ausnahmeregeln. Privilegium im objektiven 
Sinn (lex specialis) ist demnach eine spezielle 
Anordnung der Gesetzgebung oder des hierzu von 
ihr berufenen Organs, wodurch, abweichend von 
jenen Rechtssätzen, die ohnedies einzutreten hätten, 
ein individuelles Rechtsverhältnis geregelt wird. 
Privilegium im subjektiven Sinn sodann ist das 
unter Abweichung von allgemeinen Rechtsregeln 
begründete Recht bestimmter Individuen dem Staat 
oder andern Staatsbürgern gegenüber. Sachlich 
pflegt man die Ausnahmebestimmungen einzuteilen 
in besondere Begünstigungen oder besondere Be- 
schränkungen, je nachdem sie aus besonderer Für- 
sorge oder besonderer Mißgunst hervorgehen. 
Zu den ersteren gehören die sog. Rechtswohl- 
taten (privilegia favorabilia), zu den letzteren
	        
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