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die privilegia odiosa. Die Begünstigung ist
affirmativ oder negativ; eine Autorisation zu
einer Tätigkeit oder eine Befreiung, Dispensation,
Nachsicht. Dispensation ist die Aufhebung der
Wirkung eines Gesetzes in Ausnahmefällen. Han-
delt es sich um einen einzelnen Fall, so bildet die
Dispensation ein Privilegium. Handelt es sich
um einen größeren Fall, z. B. Dispens vom Auf-
gebot für Ehen von Militärpersonen bei Ausbruch
eines Kriegs, so liegt ein ius singulare vor.
4. Beurteilung des Ausnahmerechts. Wie
jede menschliche Institution kann auch Sonder-
recht und Privilegium mißbraucht werden. Der
Versuchung, Privilegien nach Willkür zu verleihen,
ist man oft genug erlegen, ganz besonders in der
durch reichliche Anwendung des Privilegiums
charakterisierten Zeit des Absolutismus; dahin er-
klärt sich das Streben des modernen Verfassungs-
staats, „an die Stelle der Privilegien die Herr-
schaft des Gesetzes treten zu lassen“. In dieser
Allgemeinheit jedoch ist der Satz nicht richtig.
Kein Rechtszweig wird der Ausnahmebestimmun-
gen entraten können. Im Strafrecht z. B. ist das
Begnadigungsrecht eine Ausnahme vom Grund-
satz der ausschließlichen Herrschaft des Gesetzes in
der Rechtspflege, die Verfolgung auf Antrag eine
Ausnahme von der Regel des Offizialprinzips.
Man denke ferner an das Privilegium der Straf-
losigkeit für Exterritoriale, an die Unverletzlichkeit
und Unverantwortlichkeit der Mitglieder gesetz-
gebender Körper, an die Notwendigkeit vorüber-
gehender Suspension gesetzlicher Bestimmungen in
bewegten kritischen Zeiten. Man braucht dabei
nicht nur öffentlich-rechtliche Verhältnisse (s. oben
Nr 1) im Auge zu haben, es gibt auch Anlässe zu
Ausnahmebestimmungen im Privatrecht; Beispiele
bieten die Moratorien, Aufhebung der Leibeigen-
schaft, der Zwangs= und Bannrechte, tabulae
novae, Schädigung der Privatrechte durch Gesetze
mit rückwirkender Kraft, die Bestimmung über den
Wechselprotest in Frankreich im letzten Krieg von
1870/71. Noch öfter ist die Verwaltung genötigt,
durch faktische Maßregeln ohne vorhergehendes
rechtliches Verfahren Eingriffe in das Privateigen-
tum oder den Besitz zu machen, z. B. in Feuer-,
Wasser-, Kriegsgefahren.
Das Wahre an der Abneigung gegen Aus-
nahmegesetze und Privilegien liegt in der Ver-
urteilung des Mißbrauchs von Ausnahme-
bestimmungen, und ein solcher wird auch in
nicht absolutistischen Staatsformen möglich sein.
Allein was Mißbrauch einer Institution ist, darf
nicht zu ihrem Begriffsmerkmal erhoben werden.
Deshalb wird Sonderrecht und Privilegium nach
wie vor ein Mittel bleiben, Einzelbedürfnissen dort
nach= und entgegenzukommen, wohin die allge-
meinen Rechtsnormen nach der Meinung der Ge-
setzgebung zu reichen nicht vermögen, oder wo sie
wenigstens tatsächlich nicht ausreichen. Die Aus-
nahmebestimmung soll aber nicht Ausfluß des Be-
liebens oder der Willkür, sondern immer nur den
Ausnahmegesetze.
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Zwecken der Gerechtigkeit dienstbar sein und das
Recht biegsam machen, wo seine allgemeinen
Normen zu hart oder schroff sind. Man würde
daher unrecht tun, Ausnahme= und gemeines Recht
nach der Herkunft zu trennen, d. h. sie so einander
gegenüberzustellen, als entspringe letzteres auf dem
reinen Rechtsgebiet, ersteres auf einem fremdartigen
Gebiet. Nur so viel ist allerdings richtig, daß
fremdartige Gründe, Gunst und Mißgunst, tat-
ächlich im anomalen Recht eine bedeutendere Rolle
pielen als im normalen, und daß es daher ratsam
ist, bei „Ausnahmegesetzen“ für bestimmte Klassen
von Staatsangehörigen, bei Gesetzen, die nicht für
alle Staatsbürger gleiche Bedeutung haben, nicht
alle in gleicher Weise treffen, den Erlaß bzw. die
Mitwirkung dabei oder ihre Rechtfertigung von
besonders triftigen und dringenden Gründen ab-
hängig zu machen.
5. Neuere Beispiele von Ausnahmegesetzen.
In Deutschland haben neuerdings zweierlei Gesetze
die Verwendung des Wortes „Ausnahmegesetze"
in weitere Kreise verbreitet und demselben die Be-
deutung eines Schlagworts — im Sinn von aus
besondern politischen Anlässen nur für die Dauer
derselben erlassenen Gesetzen — verschafft, das
aber auch oft mißbräuchlich angewendet wird, so
namentlich dann, wenn man von der allgemeinen
Verwerflichkeit der Ausnahmegesetze spricht, ohne
zu bedenken, daß es recht wohl außerordentliche
Verhältnisse im Staatsleben geben kann, wo außer-
ordentliche Maßregeln unvermeidbar sind. Wenn
auch schon vorher als Folgen kriegerischer Verhält-
nisse „Ausnahmegesetze“ zu erwähnen wären (so
die Verordnung mit Gesetzeskraft vom 2. März
1868 und das Gesetz vom 15. Febr. 1869 gegen
den König von Hannover und den Kurfürsten von
Hessen, wodurch ihr Vermögen mit Beschlag belegt
und die Einkünfte eingezogen wurden), so sind
doch vorzugsweise die Maigesetze und das So-
zialistengesetz als Ausnahmegesetze bezeichnet
worden. Gegen die erstgenannten verwahrten sich
die Katholiken unter Berufung auf das Wesen und
die geschichtliche Stellung der katholischen Kirche
sowie auf den allgemeinen Satz der preußischen
Verfassung, daß die Kirchengesellschaften ihre An-
gelegenheiten selbständig zu verwalten haben. Die
Gegner nannten die Berücksichtigung dieses Ein-
wurfs eine falsche Scheu vor der individuellen
Reglung der in den Bereich der Staatsgesetz-
gebung fallenden römisch-kirchlichen Verhältnisse
und glaubten die Feststellung besonderer Normen
für eine innerhalb der geschichtlichen Entwicklung
einzigartige Erscheinung durch einseitiges Staats-
gesetz mit Umgehung des Prinzips der Verein-
barung verwirklichen zu sollen. Da die Maigesetze
anderwärts (s. d. Art. Kulturkampf und Maigesetz-
gebung) besprochen werden, sei hier zum Beweis
ihrer exzeptionellen Natur nur ein Punkt, der
des Aufenthaltsrechts, hervorgehoben. Bekanntlich
ist der Grundsatz der Nichtauslieferung Staats-
angehöriger anerkanntes völkerrechtliches Prinzip