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angehörigkeit vom 1. Juni 1870 sowie in den
Vorschristen der Militärgesetze über die Aus-
wanderung wehrpflichtiger Personen und des
Reichsstrafgesetzbuchs über die Verletzung der
Wehrpflicht durch Auswanderung machte das
Reich von seiner Zuständigkeit aber erst Ge-
brauch durch das Gesetz über das Auswande-
rungswesen vom 9. Juni 1897, das am 1. April
1898 in Kraft trat.
Nach diesem Gesetz bedarf derjenige, welcher die
Beförderung von Auswanderern nach außerdeut-
schen Ländern betreiben will (Unternehmer),
der Erlaubnis; ihre Erteilung ist an gewisse Be-
dingungen geknüpft, ausländische Unternehmer
sind noch besondern Verpflichtungen unterworfen.
Vor Erteilung der Erlaubnis ist eine Sicherheit
im Mindestbetrag von 50 000 M zu stellen.
Die Erlaubnis wird nur für bestimmte Länder,
Teile von solchen oder bestimmte Orte und im
Fallüberseeischer Auswanderung nur für bestimmte
Einschiffungshäfen erteilt (Spezialisierungsprin-
zip). Deutsche Gesellschaften, welche sich die Be-
siedlung eines von ihnen erworbenen überseeischen
Gebiets zur Aufgabe machen, genießen besondere
Vergünstigungen. Die den Unternehmern erteilte
Erlaubnis kann unter Zustimmung des Bundes-
rats vom Reichskanzler jederzeit beschränkt oder
widerrufen werden. Wer bei einem Betrieb der
vorbezeichneten Art durch Vorbereitung, Vermitt-
lung oder Abschluß des Beförderungsvertrags ge-
werbsmäßig mitwirken will (Agent), bedarf hier-
zu der Erlaubnis, die nur unter bestimmten
Voraussetzungen gegen eine Sicherheit von min-
destens 1500 Merteilt wird und jederzeit beschränkt
oder widerrufen werden kann. Verboten ist
die Beförderung sowie der Abschluß von Verträgen
über die Beförderung: a) von Wehrpflichtigen im
Alter vom vollendeten 17. bis zum vollendeten
25. Lebensjahr, bevor sie eine Entlassungsurkunde
oder ein Zeugnis der Ersatzkommission darüber
beigebracht haben, daß ihrer Auswanderung aus
dem Grund der Wehrpflicht kein Hindernis ent-
gegensteht; b) von Personen, deren Verhaftung
oder Festnahme von einer Gerichts= oder Polizei-
behörde angeordnet ist; c) von Reichsangehörigen,
für welche von fremden Regierungen oder von
Kolonisationsgesellschaften oder ähnlichen Unter-
nehmungen der Beförderungspreis ganz oder teil-
weise bezahlt wird oder Vorschüsse geleistet werden;
Ausnahmen von dieser Bestimmung kann der
Reichskanzler zulassen. Jedes Auswandererschiff
unterliegt vor dem Antritt der Reise einer Unter-
suchung über seine Seetüchtigkeit, Einrichtung,
Ausrüstung und Verproviantierung. Weitere Vor-
schriften über die Beschaffenheit, Einrichtung, Aus-
rüstung und Verproviantierung der Auswanderer-
schiffe, über die amtliche Besichtigung und Kontrolle
dieser Schiffe, ferner über die ärztliche Untersuchung
der Reisenden und der Schiffsbesatzung vor der
Einschiffung, über die Ausschließung kranker Per-
sonen, über das Verfahren bei der Einschiffung,
Auswanderung.
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über den Schutz der Auswanderer in gesundheit-
licher und sittlicher Hinsicht und über den Ge-
schäftsbetrieb der Unternehmer und Agenten sind
vom Bundesraterlassen (Verordnung vom 14.März
1898). Zur Mitwirkung bei Ausübung der dem
Reichskanzler auf dem Gebiet des Auswanderungs-
wesens zustehenden Befugnisse besteht ein sachver-
ständiger Beirat, welcher aus einem vom Kaiser
ernannten Vorsitzenden und mindestens 14 vom
Bundesrat gewählten Mitgliedern besteht; seine
Tätigkeit ist nur eine beratende. In den Hafen-
orten übt der Reichskanzler die Aufsicht über das
Auswanderungswesen durch von ihm bestellte
Kommissare aus. Diese Kommissare sind be-
fugt, den vorgesehenen Untersuchungen beizu-
wohnen, auch selbständig Untersuchungen der Aus-
wandererschiffe vorzunehmen. Die Strafbestim-
mungen des Gesetzes sind vorwiegend gewerbe-
polizeilicher Natur; doch ist durch das Gesetz auch
der Mädchenhandel (Verkupplung von Frauens-
personen in das Ausland) unter Strafe gestellt.
Im Jahr 1908 sind auf Grund des deutschen
Auswanderungsgesetzes 2 deutsche (Hamburg-
Amerika-Linie und Norddeutscher Lloyd), 5 fremde
Reedereien (die französische Compagnie Générale
Transatlantique, bie belgische Red Star-Linie,
die englischen Gesellschaften White Star-Linie
und Cunard-Linie und die amerikanische Ame-
rican-Linie), ferner 5 selbständige deutsche Aus-
wanderungsexpedienten und 2 Siedlungsgesell-
schaften (für Brasilien) zugelassen. Jedem einzelnen
Unternehmen sind die Auswanderungshäfen und
die Bestimmungsländer genau vorgeschrieben.
Die moderne Auswanderungsgesetzgebung trifft
einmal Bestimmungen wohlfahrtspolizeilicher Art
zugunsten der Auswandernden, sie bemüht sich
aber gleichzeitig, die Auswanderung den wirt-
schaftlichen und nationalen Interessen des Heimat-
staats dienstbar zu machen. Besitzt das Mutter-
land keine eigenen Kolonien oder kommen diese
aus klimatischen oder sonstigen Gründen als Be-
siedlungsgebiete nicht in Betracht, so sucht man
die Auswanderer dorthin zu führen, wo sie ihre
Existenz finden und in ihrer heimischen Sprache
und Kultur möglichst geschützt sind vor der Auf-
saugung durch eine fremde Nation und auch in
späteren Generationen die nationale und handels-
politische Fühlung mit der Heimat bewahren.
Dies geschieht am ehesten dort, wo die Schranken
der verschiedenen Rassen trennend wirken, aber
auch in Ländern, deren politische Weltstellung,
deren innerer staatlicher Ausbau, deren Kultur
und Bildung die Zuwanderer nicht so leicht für die
fremdländische Eigenart zu begeistern vermögen.
In Erwägung dieser Tatsachen ist denn auch des
öftern der Vorschlag gemacht worden, die deutsche
Auswanderung von den Vereinigten Staaten mög-
lichst abzulenken. Die deutsche Regierungspolitik
hat sich aber von der Betätigung dieser Idee fern-
gehalten. Ganz abgesehen von diplomatischen
Verwicklungen, die dadurch vermieden werden,