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läßt sich die deutsche Politik dabei von der An-
schauung leiten, daß das Deutschtum in der ameri-
kanischen Union ein immerhin einflußreicher Faktor
ist, der durch Auswanderungserschwerungen nur
eine Schwächung erleiden würde. Auch ist zu berück-
sichtigen, daß in der Union zahlreiche Siedlungen
Generationen hindurch ihr Deutschtum bewahrten
und auch bei weitem nicht alle deutschen Emigranten
in Amerika Konkurrenten deutscher Arbeit wurden.
Abgesehen von den Vereinigten Staaten und Ka-
nada, abgesehen auch von den deutschen Kolonien
(ogl. Sp. 486) sucht das Deutsche Reich seine Aus-
wanderer namentlich nach bestimmten Ansiedlungen
Südbrasiliens und der Platastaaten zu lenken.
Durch Verträge z. B. mit den süd= und mittel-
amerikanischen Staaten hat das Reich vereinbart,
daß die Deutschen, die sich in das Gebiet des
andern Teils begeben haben, um dort zu leben,
sich aber die Nationalität ihres Heimatlandes nach
dessen Gesetzen bewahrt haben, als Deutsche an-
gesehen werden sollen. Auch läßt das deutsche
Staatsrecht (im Gegensatz zum englischen und
französischen) den Eintritt in einen fremden Staats-
verband zu, ohne daß dadurch ein Verlust der
deutschen Staatsangehörigkeit eintritt (natürlich
nur bei Wahrung der vorgeschriebenen Formen).
Das Deutsche Reich läßt seinen Angehörigen und
seinen Stammesbrüdern im Ausland seinen poli-
tischen Schutz in ausreichender Weise angedeihen,
es sorgt ferner nach Kräften für Erhaltung des
Deutschtums unter den Ausgewanderten durch
Gründung und Förderung deutscher Schulen,
durch Anstellung deutscher Priester oder Prediger,
durch deutsche Vereine usw.
Um eine unüberlegte planlose Auswanderung
möglichst zu verhindern und um die Auswande-
rungslustigen über die Verhältnisse im Einwande-
rungsland genau zu informieren, sind staatliche
oder unter staatlicher Aufsicht stehende private
Auskunftsstellen geschaffen. Im Deutschen
Reich hat die Deutsche Kolonialgesellschaft eine der
Aufsicht des Reichskanzlers unterstellte „Zentral-
auskunftsstelle für Auswanderer“ auf Anregung
der Reichsregierung und gegen einen jährlichen
Reichszuschuß von 30 000 M im Jahr 1902 ins
Leben gerufen. Ihr steht ein sachverständiger Bei-
rat aus Mitgliedern der Kolonialgesellschaft und
verwandter Vereine zur Seite, sie informiert über
sämtliche außerdeutschen Länder einschließlich der
deutschen Schutzgebiete. Die Auskunfterfolgt völlig
kostenlos und wird entweder mündlich oder schrift-
lich, durch die Zentralauskunftsstelle in Berlin,
oder durch Vertrauensmänner oder innerhalb des
Reichs geschaffene (1908: 57) Zweigstellen (nur
mündlich) erteilt. Das Material beruht auf even-
tuell telegraphisch gegebenen Berichten der Kon-
suln und wird durch das Auswärtige Amt ge-
liefert. Uber die Verhältnisse einzelner Sied-
lungsgebiete sind auch schon gedruckte Veröffent-
lichungen erschienen, die an Interessenten verab-
folgt werden.
Auswanderung.
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Neben den staatlichen Maßnahmen ist auch eine
umfangreiche private Tätigkeit zugunsten der
Auswanderer vorhanden. Zahlreiche Gesellschaften
haben sich teils die Besiedlung bestimmter Ge-
biete teils die soziale und wirtschaftliche Fürsorge:
für die Auswanderer zur Aufgabe gemacht. Auf
sozial-charitativem Gebiet ist hier vor allem der
Raphaelsverein zu nennen, durch dessen Be-
mühungen umfassende Schutzmaßregeln im Inter-
esse der Auswanderer getroffen worden sind,
sowohl im Einschiffungshafen (möglichste Ver-
hinderung der Ausbeutung seitens der Logiswirte,
Pastorierung usw.), während der Seereise (Be-
kämpfung ungesunder und unsittlicher Zustände
im Zwischendeck) wie auch nach Ankunft jenseits des
Ozeans (Wahl des Wohnsitzes in einem Ort mit
katholischer Kirche und Schule eigener Nationali-
tät). Auf protestantischer Seite hat sich äußerst
verdienstvoll die Innere Mission der Auswanderer-
fürsorge angenommen.
In Österreich wird die Reglung des Aus-
wanderungswesens nach Art des deutschen Aus-
wanderergesetzes erstrebt. Auch wird für eine
„Nationalisierung der Auswanderung“ Propa-
ganda gemacht.
Von allgemeiner Bedeutung ist die Auswande-
rungspolitik der letzten Jahre in Ungarn. Hier
sollte das Gesetz vom 11. März 1903 die seit
1898 immer stärkerwerdende Auswanderung (jähr-
lich 100 000 Personen), infolge deren an vielen
Orten die männliche Bevölkerung mittleren Alters
fast ganz fehlte und die Großgrundbesitzer ihre bil-
ligen Arbeitskräfte verloren, möglichst eindämmen.
Der ungarische Hafen Fiume wurde zum Zentral-
punkt für die Auswanderung gemacht und diese in
den Dienst der nationalen Interessen zu stellen ge-
sucht, die Benutzung deutscher Häfen wurde sehr
erschwert. Der schwere Konkurrenzkampf zwischen
dem nordatlantischen Dampferverband (Hamburg-
Amerika-Linie und Norddeutscher Lloyd) und der
von der ungarischen Regierung begünstigten Cu-
nard-Linie fiel aber zum Nachteil der letzteren und
der ungarischen Regierungspolitik aus, so daß
heute die ungarische Auswanderung vorwiegend
wieder über Hamburg und Bremen geht. Da
das Gesetz von 1903 nicht die erwartete Wirkung
gebracht hat (in den Jahren 1903/07 wanderten
über 800 000 Personen aus), wurde (1908) eine
die bisherigen Bestimmungen verschärfende Regie-
rungsvorlage eingebracht, die in erster Linie die
Auswanderung von Militärpflichtigen, Minder-
jährigen und Familienvätern, die unversorgte Fa-
milien zurücklassen, erschweren bzw. verhindern soll.
In England gelangte der Grundsatz der
Auswanderungsfreiheit schon in der Magna
Charta (1215) zur Anerkennung; allerdings
wurde das Prinzip später mehrfach durchbrochen.
Die verschiedenen dem Auswandererschutz dienen-
den Passagierakte sind in der Merchant Ship-
ping Act vom 25. Aug. 1894 kodifiziert. Die
Auskunftserteilung erfolgt seit 1886 durch das