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ihres neuen Vaterlandes ausübten und großen-
teils dem Verlust ihrer Nationalität entgingen.
2. Die Besiedlung Amerikas. Die „neue
Welt“ war vom Augenblick ihrer Entdeckung an
das Ziel einer massenhaften Auswanderung. Zu-
nächst waren es die Spanier, welche infolge der
Besitzergreifung Mexikos und des größten Teils
von Südamerika nach dem neuentdeckten Weltteil
zogen. Doch hat diese Auswanderung infolge
ihrer Erschwerung aus Besorgnis vor der drohen-
den Entvölkerung des Mutterlandes und der Ab-
schließung der spanischen Kolonien gegen das Aus-
land bei weitem nicht den Umfang erreicht, welchen
die spätere englische und auch die deutsche Emigra-
tion nach Nordamerika angenommen hat.
Im Vergleich mit der spanischen Einwande-
rung nach Süd= und Mittelamerika war das Zu-
strömen europäischer Auswanderer nach den nörd-
lichen Regionen dieses Weltteils ein überraschend
großes. Waren die südliche Hälfte Amerikas und
Mexiko der lateinischen Rasse zugefallen, so sollte
das Gebiet der jetzigen Vereinigten Staaten von
Amerika und das gegenwärtige britische Nord-
amerika größtenteils der Schauplatz germanischer
Kulturtätigkeit werden.
Nachdem in der ersten Hälfte des 17. Jahrh.
die ersten Scharen von Kolonisten in das Land
eingedrungen, war der Zustrom über See bis nach
Loslösung der Kolonien geringer. Eine regere,
wenn auch häufig unterbrochene Einwanderung
brachte der erfolgreiche Ausgang des Unabhängig-
keitskriegs. Doch blieb bis 1831 der europäjüsche
Zustrom relativ unbedeutend (1783/1831 etwa
415.000 Köpfe). Seitdem setzt eine regere Einwan-
derung ein, die bis heute eine ständige Steigerung
erfahren hat. Im Jahr 1842 betrug die jährliche
Einwanderung schon 100 000. 1847: 200 000,
1851: 300 000, 1854:400000, 1881:600000,
1902: 7000000, 1903: 900 000, 1905 wurde
die Million erreicht und überschritten (1,02 Mill.),
im Berichtsjahr 1906/07 (Juli bis Juli) betrug
sie 1,3 Mill. Die gesamte weiße überseeische Ein-
wanderung bis einschließlich 1906 beträgt rund
25 Mill. Nur infolge dieses ganz gewaltigen
Zustroms von außen ist die Bevölkerung der Union
so stark angewachsen (1790: 3,9 Mill., 1850:
23,2 Mill., 1890: 62,6 Mill., 1900: 76 Mill.).
Die Nationalität der Einwanderer läßt sich bis
1819 zurück verfolgen. Bis zum Ausgang des
Bürgerkriegs waren es vor allem Iren, Briten
und Deutsche, dann außerdem bis Ende der
1870er Jahre auch Schweden und Norweger, die
bei weitem das Gros der Einwanderer bildeten.
Anfang der 1880er Jahre begannen größere
Scharen aus Osterreich-Ungarn, Italien und Ruß-
land einzuwandern, seit Anfang der 1890er Jahre
erlangte die Einwanderung aus diesen Ländern
eine dominierende Stellung. Des näheren wird
auf diese neueren Erscheinungen noch bei Be-
sprechung der Einwanderungsbeschränkungen ein-
gegangen werden. — Von großer wirtschaft-
Auswanderung.
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licher und nationaler Bedeutung für die Union
wurde übrigens auch die Zwangseinwanderung
der Neger.
3. Die deutsche Auswanderung. Die
günstigen Aussichten, welche Nordamerika, ins-
besondere das Gebiet der Union, für die Auswan-
derung bot, haben auf den deutschen Auswanderer-
strom eine solch starke Anziehungskraft ausgeübt,
daß die Auswanderung Deutscher nach andern
Gebieten dagegen vollständig in den Hintergrund
tritt. Die Anfänge der deutschen Auswanderung
nach Nordamerika reichen bis über die Mitte des
Dreißigjährigen Krieges zurück. Im 18. Jahrh.
richtete sich dieselbe vornehmlich nach Pennsylva-
nien. Löher (Gesch. u. Zustände der Deutschen in
Amerika, 21856) teilt Bemerkenswertes darüber
mit; so über den Zug von 32 000 Auswanderern,
welche 1709 ihren Weg über England nahmen
und daselbst zum großen Teil dem Hungertod er-
lagen. Ein amerikanischer Beamter berichtet 1729,
„es sei klar, daß die Scharen von Deutschen bald
einen deutschen Staat erzeugen würden und viel-
leicht einen solchen, als Großbritannien im
5. Jahrh. von den Sachsen beschert worden sei“;
ein anderer meldet (1755), es seien im Jahr 1754
über 5000 hereingeströmt. Der amerikanische Be-
freiungskrieg brachte eine Unterbrechung, welche
während der französischen Revolution und des
Kaiserreichs andauerte. Von 1815 an aber be-
gann ein sehr bedeutendes Wachsen. Bis 1820
sind im ganzen bereits mehrere 100 000 Deutsche
nach der Union übergesiedelt. Immerhin betrug
die deutsche Einwanderung in den 1820er Jahren
durchschnittlich nur einige hundert Seelen jährlich;
sie stieg aber in den folgenden Jahrzehnten als
Folge der politischen Wirren, der ungünstigen
wirtschaftlichen Verhältnisse und nicht zuletzt in-
folge der malthusianischen Politik der deutschen
Staaten, erreichte 1836 schon 20 000, überschritt
1846: 50 000, 1852 und 1853: 100 000 und
erreichte 1854 mit 215.000 Köpfen den ersten
Höhepunkt. Von da ab macht sich eine fallende
Tendenz bemerkbar, die erst 1866 wieder einer
steigenden Platz macht. In der Zeit von 1820
bis 1870 sind insgesamt 2 368 483 Deutsche nach
der Union ausgewandert. Bezüglich der weiteren
Zahlen informiert die Tabelle auf Sp. 485 über
die deutsche Auswanderung seit 1871. Wir sehen
daraus, daß die Vereinigten Staaten ihre An-
ziehungskraft weiter ausgeübt und in einzelnen
Zeiten sogar ganz gewaltig wieder gesteigert haben.
Das starke Nachlassen der deutschen Einwanderung
seit den 1890er Jahren ist eine Folge der ver-
besserten sozialen Lage und des wirtschaftlichen
Aufschwungs im Deutschen Reich. Die gesamte
nach der Union ausgewanderte deutsche Bevölke-
rung einschließlich ihrer ersten Generation wird auf
26 Mill. geschätzt. Im Jahr 1900 waren von der
Gesamtbevölkerung (75,7 Mill.) 2,66 Mill. in
Deutschland Geborene, von 6,25 Mill. Personen
waren beide Eltern, von 1,5 Mill. Vater oder