Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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anheimfallen ließ, so ward doch die staatliche Ge- 
setzgebung infolge aller dieser Verhältnisse auf eine 
ganz verschiedene Basis gerückt. Es erfolgte natur- 
gemäß ein Zurückfallen in die altgermanischen, 
vorherrschend partikularistischen Zustände. Und 
was war natürlicher, als daß auch die Rechts- 
bildung in diese Bewegung hineingezogen wurde? 
Die schwachen oder häufig abwesenden Monarchen 
der west= wie der ostfränkischen, eigentlich deutschen 
Monarchie fanden wirklich wenig Gelegenheit zur 
Ausübung legislatorischer Tätigkeit. Und auch die 
alten karolingischen Gesetze verschwanden größten- 
teils aus der Praxis. Die mächtigen Grafen, die 
allmählich die Erblichkeit ihres Amts erlangenden 
Grafen und Markgrafen, die Bischöfe und Abte usw., 
mit deren Würde die Grasschaft eo ipso verbun- 
den blieb, führten eben vielfach gerade so viel von 
jenen Gesetzen aus, als ihnen gutdünkte, und 
naturgemäß schritten sie ordnend und Normen 
aufstellend da ein, wo sich dringende Veranlassung 
dazu ergab, und gewiß oftmals auch ohne eine 
solche. Ist doch das einfache Verordnungsrecht, 
wie es höheren Behörden zuzustehen pflegt, ohne- 
dies von dem Recht der Gesetzgebung in manchen 
Fällen schwer zu unterscheiden. Wie hätte da 
diese feine Grenze in jenen fernen Zeiten beobachtet 
werden sollen, in denen nicht juristisch scharf ge- 
bildete Gesetzeskundige, sondern vielfach rauhe 
Krieger und fauststarke Prälaten an der Spitze 
der Verwaltung standen? So bildete sich denn 
allmählich, und zwar in dem Maß, als sich die 
Stellung der großen Lehnsträger und diejenige 
der mittleren und kleineren festigte, welche, durch 
Immunitätserklärung aus dem Grasschaftsver- 
band geschieden, selbst mit Grafenrechten ausge- 
stattet worden waren, eine neue Art von Auto- 
nomie aus, die sich, während die Befugnis zu 
autonomer Tätigkeit früher der Gemeinde, der 
Stammesversammlung usw. beigelegt gewesen war, 
nunmehr als eine der sich entwickelnden Landes- 
herrschaft beigelegte Gewalt charakterisiert. 
Mögen die principes, rectores terrae usw., 
wie die Inhaber der territoria, terrae, domi- 
nia — so werden die aus den alten Grasschaften 
durch Abzweigungen und Hinzutaten allmählich 
hervorgewachsenen Gebiete bezeichnet — sonst noch 
genannt werden, auch noch nicht reichsgesetzlich 
zur Vornahme der Gesetzgebung in gewissen 
Schranken befugt erklärt worden sein, sie waren 
es durch die Ubung doch geworden. Sie charak- 
terisieren sich als Inhaber wirklich autonomer 
Befugnisse. Denn auch das andere Merkmal der 
Autonomie geht ihrer Stellung nicht abs sie bleiben 
immerhin dem Kaiser und Reich untergeordnet. 
Der Kaiser bleibt unter Zustimmung der Reichs- 
versammlung oberster Gesetzgeber, und es fehlt 
nicht an Beispielen der Ausübung dieser deutschen 
Reichsgesetzgebung. Man denke an die Confoede- 
ratio cum principibus ecclesiasticis und das 
Statutum in favoremn principum aus der Zeit 
Friedrichs II., an die zahlreichen Landfrieden der 
Autonomie. 
  
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folgenden Zeiten, an die Goldene Bulle, an die 
Errichtung des Reichskammergerichts im Jahr 
1495, an das Reichsstrafgesetzbuch und die Reichs- 
kriminalgerichtsordnung, die Carolina, welche der 
Regierung eines der letzten kräftig in die Geschicke 
des Reichs eingreifenden Monarchen, Karls V., 
angehörte. 
Es ist also der Staat, diese höchste, das ge- 
samte weltliche Rechtsleben ordnende bürgerliche 
Rechtsgemeinschaft, die nur eine von ihr wirklich 
unabhängige und ihrem Ursprung und Zweck nach 
sogar höhere Gesellschaft, die Kirche, neben sich 
kennt, auch im Mittelalter vorhanden. Im karo- 
lingischen Gemeinwesen erhebt der Staat sich zu 
einer im wesentlichen uneingeschränkten Macht: 
der König ist die Quelle des Friedens und des 
Rechts, er erscheint als mit der Gewalt des antiken 
Imperators des römischen Reichs über die Ro- 
manen nicht nur, sondern auch über die siegreichen 
Germanen bekleidet. Von wahrem Verständnis 
für das Volksleben getragen, wird diese kaiserliche 
Gewalt nicht zur Vernichtung des autonomen 
Rechtslebens mißbraucht, soweit dasselbe der Lage 
der Verhältnisse nach berechtigt erscheint. Neben 
der energischen staatlichen, neben der umfassenden 
Reichsgesetzgebung bleibt ein weites Gebiet auto- 
nomen Rechtslebens, das sich gewohnheitsrechtlich 
erhält und fortbildet. Aber die oben geschilderten 
Verhälltnisse, ohne fürs erste die staatsrechtliche 
Grundlage der Reichsverfassung theoretisch umzu- 
formen, führen das faktische Wiederaufleben auto- 
nomer Machtbefugnisse auch auf dem Gebiet des 
öffentlichen Rechts herbei. Die Macht der Fürsten 
und Großen wird, wie sie auf dem Reichstag, 
seit dem Ende der karolingischen Periode, die 
Notwendigkeit der Zustimmung dieser Versamm- 
lung zur Gesetzgebung zur Folge hat, in anderer 
Weise im Territorium eines jeden derselben leben- 
dig. Die Fürsten wurden, soweit die Reichsgesetz- 
gebung nicht einschritt, Gesetzgeber für ihr Land. 
Und wenn bis zum Ende des 14. Jahrh. in An- 
betracht der autonomen Gliederung der Nation 
in den Gemeinden, den Hofgenossenschaften der 
zinspflichtigen Untertanen des Grundadels usw., 
in welchen die privatrechtliche Rechtsbildung, die 
Ordnung der Gemeindepolizei u. dgl. sich vollzog, 
die Gesetzgebung sich hauptsächlich nur auf Steuer-, 
Markt-, Münz-, Bergwerksangelegenheiten und 
Ordnung der ständischen Rechte bezog, so erfolgt 
doch schon im 15. Jahrh. vielfach ein sehr ein- 
gehendes Eingreifen der Landesfürsten in 
legislativer Hinsicht. Es wurden unter Zustim- 
mung der Landstände — denn wie der Kaiser auf 
dem Reichstag, so fanden die autonomen Herren 
in den Landtagen ihre konstitutionelle Schranke — 
umfassende Gesetze, ganze Landesordnungen zur 
Reglung der Landesverfassung, der Sicherheits- 
pflege, der Steuererhebung usw. erlassen, wie die 
thüringische von 1446, die bayrische von 1474, 
die württembergische von 1494. Aber nicht nur 
die Gegenstände der Verfassung und Verwaltung
	        
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