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anheimfallen ließ, so ward doch die staatliche Ge-
setzgebung infolge aller dieser Verhältnisse auf eine
ganz verschiedene Basis gerückt. Es erfolgte natur-
gemäß ein Zurückfallen in die altgermanischen,
vorherrschend partikularistischen Zustände. Und
was war natürlicher, als daß auch die Rechts-
bildung in diese Bewegung hineingezogen wurde?
Die schwachen oder häufig abwesenden Monarchen
der west= wie der ostfränkischen, eigentlich deutschen
Monarchie fanden wirklich wenig Gelegenheit zur
Ausübung legislatorischer Tätigkeit. Und auch die
alten karolingischen Gesetze verschwanden größten-
teils aus der Praxis. Die mächtigen Grafen, die
allmählich die Erblichkeit ihres Amts erlangenden
Grafen und Markgrafen, die Bischöfe und Abte usw.,
mit deren Würde die Grasschaft eo ipso verbun-
den blieb, führten eben vielfach gerade so viel von
jenen Gesetzen aus, als ihnen gutdünkte, und
naturgemäß schritten sie ordnend und Normen
aufstellend da ein, wo sich dringende Veranlassung
dazu ergab, und gewiß oftmals auch ohne eine
solche. Ist doch das einfache Verordnungsrecht,
wie es höheren Behörden zuzustehen pflegt, ohne-
dies von dem Recht der Gesetzgebung in manchen
Fällen schwer zu unterscheiden. Wie hätte da
diese feine Grenze in jenen fernen Zeiten beobachtet
werden sollen, in denen nicht juristisch scharf ge-
bildete Gesetzeskundige, sondern vielfach rauhe
Krieger und fauststarke Prälaten an der Spitze
der Verwaltung standen? So bildete sich denn
allmählich, und zwar in dem Maß, als sich die
Stellung der großen Lehnsträger und diejenige
der mittleren und kleineren festigte, welche, durch
Immunitätserklärung aus dem Grasschaftsver-
band geschieden, selbst mit Grafenrechten ausge-
stattet worden waren, eine neue Art von Auto-
nomie aus, die sich, während die Befugnis zu
autonomer Tätigkeit früher der Gemeinde, der
Stammesversammlung usw. beigelegt gewesen war,
nunmehr als eine der sich entwickelnden Landes-
herrschaft beigelegte Gewalt charakterisiert.
Mögen die principes, rectores terrae usw.,
wie die Inhaber der territoria, terrae, domi-
nia — so werden die aus den alten Grasschaften
durch Abzweigungen und Hinzutaten allmählich
hervorgewachsenen Gebiete bezeichnet — sonst noch
genannt werden, auch noch nicht reichsgesetzlich
zur Vornahme der Gesetzgebung in gewissen
Schranken befugt erklärt worden sein, sie waren
es durch die Ubung doch geworden. Sie charak-
terisieren sich als Inhaber wirklich autonomer
Befugnisse. Denn auch das andere Merkmal der
Autonomie geht ihrer Stellung nicht abs sie bleiben
immerhin dem Kaiser und Reich untergeordnet.
Der Kaiser bleibt unter Zustimmung der Reichs-
versammlung oberster Gesetzgeber, und es fehlt
nicht an Beispielen der Ausübung dieser deutschen
Reichsgesetzgebung. Man denke an die Confoede-
ratio cum principibus ecclesiasticis und das
Statutum in favoremn principum aus der Zeit
Friedrichs II., an die zahlreichen Landfrieden der
Autonomie.
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folgenden Zeiten, an die Goldene Bulle, an die
Errichtung des Reichskammergerichts im Jahr
1495, an das Reichsstrafgesetzbuch und die Reichs-
kriminalgerichtsordnung, die Carolina, welche der
Regierung eines der letzten kräftig in die Geschicke
des Reichs eingreifenden Monarchen, Karls V.,
angehörte.
Es ist also der Staat, diese höchste, das ge-
samte weltliche Rechtsleben ordnende bürgerliche
Rechtsgemeinschaft, die nur eine von ihr wirklich
unabhängige und ihrem Ursprung und Zweck nach
sogar höhere Gesellschaft, die Kirche, neben sich
kennt, auch im Mittelalter vorhanden. Im karo-
lingischen Gemeinwesen erhebt der Staat sich zu
einer im wesentlichen uneingeschränkten Macht:
der König ist die Quelle des Friedens und des
Rechts, er erscheint als mit der Gewalt des antiken
Imperators des römischen Reichs über die Ro-
manen nicht nur, sondern auch über die siegreichen
Germanen bekleidet. Von wahrem Verständnis
für das Volksleben getragen, wird diese kaiserliche
Gewalt nicht zur Vernichtung des autonomen
Rechtslebens mißbraucht, soweit dasselbe der Lage
der Verhältnisse nach berechtigt erscheint. Neben
der energischen staatlichen, neben der umfassenden
Reichsgesetzgebung bleibt ein weites Gebiet auto-
nomen Rechtslebens, das sich gewohnheitsrechtlich
erhält und fortbildet. Aber die oben geschilderten
Verhälltnisse, ohne fürs erste die staatsrechtliche
Grundlage der Reichsverfassung theoretisch umzu-
formen, führen das faktische Wiederaufleben auto-
nomer Machtbefugnisse auch auf dem Gebiet des
öffentlichen Rechts herbei. Die Macht der Fürsten
und Großen wird, wie sie auf dem Reichstag,
seit dem Ende der karolingischen Periode, die
Notwendigkeit der Zustimmung dieser Versamm-
lung zur Gesetzgebung zur Folge hat, in anderer
Weise im Territorium eines jeden derselben leben-
dig. Die Fürsten wurden, soweit die Reichsgesetz-
gebung nicht einschritt, Gesetzgeber für ihr Land.
Und wenn bis zum Ende des 14. Jahrh. in An-
betracht der autonomen Gliederung der Nation
in den Gemeinden, den Hofgenossenschaften der
zinspflichtigen Untertanen des Grundadels usw.,
in welchen die privatrechtliche Rechtsbildung, die
Ordnung der Gemeindepolizei u. dgl. sich vollzog,
die Gesetzgebung sich hauptsächlich nur auf Steuer-,
Markt-, Münz-, Bergwerksangelegenheiten und
Ordnung der ständischen Rechte bezog, so erfolgt
doch schon im 15. Jahrh. vielfach ein sehr ein-
gehendes Eingreifen der Landesfürsten in
legislativer Hinsicht. Es wurden unter Zustim-
mung der Landstände — denn wie der Kaiser auf
dem Reichstag, so fanden die autonomen Herren
in den Landtagen ihre konstitutionelle Schranke —
umfassende Gesetze, ganze Landesordnungen zur
Reglung der Landesverfassung, der Sicherheits-
pflege, der Steuererhebung usw. erlassen, wie die
thüringische von 1446, die bayrische von 1474,
die württembergische von 1494. Aber nicht nur
die Gegenstände der Verfassung und Verwaltung