Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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nahmen die landesherrliche gesetzgebende Tätigkeit 
in Anspruch. Auch das Privatrecht des Landes, 
wie es sich gewohnheitsrechtlich ausgebildet hatte, 
wurde in verschiedenen reichsfürstlichen Gebieten 
unter Zustimmung der Stände kodifiziert, wie dies 
mit Ludwigs des Bayernoberbayrischen Landrechten 
und dem Landrecht des erzbischöflichen Landes 
Salzburg, welches Erzbischof Friedrich III. im 
Jahr 1328 ergehen ließ, der Fall war. Und wie 
das Privatrecht, so sehen wir auch das Gerichts- 
wesen als Gegenstand dieser landesfürstlichen Le- 
gislation, die u. a. im Jahr 1455 zur hessischen, 
im Jahr 1474 zur bayrischen Gerichtsordnung 
führte. Es ist also offenbar, daß schon vor dem 
Westfälischen Frieden, welcher den Reichsständen 
das Recht der Gesetzgebung ausdrücklich zusprach, 
die Reichsfürsten zuletzt als mit weitestem Gesetz- 
gebungsrecht ausgestattete Machthaber sich erwiesen. 
Sie sind also mit den Faktoren, welche gegen- 
wärtig im öffentlichen Leben außer der eigentlichen 
Staatsgewalt zur Rechtsbildung berufen sind, in 
starkem Kontrast und können nur mit jenen einem 
höheren Staatsganzen eingefügten, untergeord- 
neten, aber immerhin noch selbständigen Staats- 
gebilden verglichen werden, die, wie die Einzel- 
staaten des gegenwärtigen Deutschen Reichs, die 
Kantone der Schweiz oder die verschiedenen Staaten 
der nordamerikanischen Union, eine mehr oder 
minder beschränkte Souveränität genießen. Ein 
Wesensunterschied aber zwischen dieser Art von 
Rechtsorganisationen und den früheren mit weiter 
Verordnungsgewalt ausgestatteten Großen des 
Mittelalters und den mit autonomen Befugnissen 
ausgestatteten Korporationen usw. der Jetztzeit, 
wie z. B. den Kronländern der österreichischen 
Monarchie, den Gemeinden mit ihren oft weit- 
gehenden Befugnissen zur Umlagenerhebung, zur 
Handhabung des Marktverkehrs u. dgl. oder den 
neubelebten Gewerbegenossenschaften, namentlich 
da, wo dieselben wie in Deutschland eventuell zu 
Funktionen auch über Nichtmitglieder autorisiert 
und mit gewissen Privilegien ausgestattet werden 
können, und noch mehr da, wo sie obligatorischen 
Charakter besitzen, und andern derartigen Rechts- 
verbänden ist nicht leicht aufzustellen. 
Im Umfang der autonomen Berechtigung 
kommen große Unterschiede vor. Es ist aber schwer 
zu sagen, dieser oder jener Umfang derselben stempelt 
die betreffende rechtliche Bildung zu einem Staat 
im Staat, verleiht ihr eigentlich staatlichen Cha- 
rakter oder läßt sie nur als eine die Stellung ihrer 
Mitglieder bis zu einem gewissen Grad bindende 
und rechtlich bestimmende Gemeinschaft erscheinen. 
Viel eher kann ein Unterscheidungs tzwisch 
den verschiedenen Trägern der Autonomie darin 
gefunden werden, daß die einen, die eigentlich 
staatlichen Charakter habenden, auf ihrem, wenn 
auch beschränkten, rechtlichen Verfügungsgebiet 
selbständig vorgehen dürfen, ohne der Bestätigung 
ihrer Normierungen gewisser Teile des öffentlichen 
oder privaten Rechtslebens von seiten der im ganzen 
Autonomie. 
  
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ihnen übergeordneten staatlichen Gewalt zu be- 
dürfen. Dies ist der Fall betreffs der Partikular= 
gesetzgebung der deutschen Reichsstaaten der Gegen- 
wart, der Kantone der Schweiz und der öster- 
reichischen Kronländer, die für ihre Landesgesetze 
nicht der Zustimmung des Reichsrats, sondern 
nur derjenigen der Krone bedürfen, deren In- 
haber nicht nur als Kaiser von Osterreich, sondern 
auch als König von Böhmen, Herzog von Steier- 
mark, Markgraf von Mähren, Graf von Tirol 
usw. erscheint. Aber ganz zutreffend ist auch diese 
Unterscheidung nicht, denn es gibt auch Korpo- 
rationen und Verbände, z. B. diejenigen der ehe- 
mals reichsständischen und im Jahr 1806 media- 
tisierten hochadligen Familien, welche für ihre 
Güter und Familienverhältnisse laut Art. 14 der 
Deutschen Bundesakte sogar unter Abänderung 
der allgemeinen Rechtsinstitute autonome Anord- 
nungen zu treffen berechtigt sind, ohne einer staat- 
lichen Genehmigung zu bedürfen, sondern nur 
unter der Bedingung, „dieselben dem Souverän 
vorzulegen und sie bei den höchsten Landesstellen 
zur allgemeinen Kenntnis und Nachachtung zu 
bringen“. Und doch, welcher Unterschied zwischen 
einer derartigen gesetzgeberischen Charakter an sich 
tragenden Familienfestsetzung und einem schwei- 
zerischen Kantonalgesetz! Es ist also, wenn auch, 
wie gesagt, eine klare juristische Grenze zwischen 
den einzelnen Befugnissen zu legislativer Tätig- 
keit, die in verschiedenstem Umfang existieren, nicht 
gezogen zu werden vermag, doch berechtigt, daß 
der Sprachgebrauch der älteren Zeit verlassen 
worden ist, welcher unter der Autonomie das ius 
statuendi s. statuta condendi verstand, womit 
das Recht, partikularrechtliche Normen aufzustellen, 
und namentlich das landesherrliche Gesetzgebungs- 
recht bezeichnet wurde, wie dies von den alten 
Juristen, z. B. Bartolus, Ulrich Zasius, Mynsinger, 
Betsius u. a., geschieht (nähere Nachweise bei Be- 
seler, System des gemeinen deutsch. Privatrechts). 
Die Rechtswissenschaft hat recht getan, den Be- 
griff der Autonomie einzuschränken, wenn derselbe 
auch nicht ohne weiteres sich ausschließlich nur auf 
das durch die Staatsgewalt beschränkte Recht ge- 
wisser Korporationen beziehen darf. Es ist eben 
denkbar, daß gewisse Körperschaften ein von obrig- 
keitlicher Bestätigung ganz unabhängiges Recht 
besitzen, wie dies bezüglich der hochadligen Fa- 
milien soeben nachgewiesen worden ist. 
Um übrigens mit diesem historischen Überblick 
der Entwicklung der autonomen Gestaltungen des 
Rechtslebens zu Ende zu kommen, muß hervor- 
gehoben werden, daß die erstarkende, sich von 
umfassender autonomer Befugnis zu eigentlich 
staatlichem Charakter weiter entwickelnde Gewalt 
der Territorialherren des deutschen Reichs nicht 
minder wie Frankreichs und Italiens durchaus nicht 
absorbierend innerhalb des von ihr beherrschten 
Landes auftrat. Im Gegenteil, bis zur Rezeption 
des römischen Rechts im 15. Jahrh. erhielt sich 
die gewohnheitsrechtliche, unmittelbar aus dem 
 
	        
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