Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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wir den niederen Sinn öffnen und offen halten 
müssen für die Sinnenwelt, so den geistigen Sinn 
für die höhere Welt der Ideen. Nicht mit dem 
ernstlichen Zweifel und dem Unglauben an die in 
der Gesellschaft fortlebenden ethisch-religiösen Über- 
zeugungen hat der Forscher zu beginnen — das 
wäre eine Rebellion gegen die Gesellschaft und 
eine Vogelfreierklärung derselben — nein! er hat 
vielmehr mit vertrauensvoller Hingabe an sie zu 
beginnen, um diesen unmittelbaren, labilen Glau- 
ben zu einem bewährten, illabilen zu erheben 
(Sämtl. Werke V60; VI 139). Vom äußeren, 
geschichtlichen Glauben hat er voranzudringen zu 
dessen Experiment, zu dessen Bewahrheitung in 
innerlich mystischer Erfahrung, so daß auf zweier 
Zeugen Mund die Wahrheit beruht, die den Er- 
kennenden freimacht (1 325; X 51). Diese Be- 
wahrheitung des äußeren Glaubens in innerlich- 
mystischer Erfahrung ist zwar ein „Selberwissen“, 
welches von einem unerleuchteten Obskurantismus 
umsonst zurückgehalten und geleugnet werden will, 
nicht aber ein „Vonsichselberwissen“, indem sie 
ohne äußere und innere Offenbarung Gottes nicht 
zustande kommen kann (X 23 ff). Die Philo- 
sophie Baaders ist im Prinzip sonach eine religiöse. 
Gott ist vollendeter Geist vor und über aller 
Schöpfung. Er ist unfähig des Bösen. Der 
niedere, reelle, natürliche Lebensprozeß kann sich 
in ihm nicht wie im Geschöpf vom ideellen, gei- 
stigen, übernatürlichen Lebensprozeß loslösen und 
in abnormer, revolutionärer, un= und widergött- 
licher Weise zur Erscheinung bringen. Somit ist 
der göttliche Geist ewig sich selber offenbar wie 
als erzeugende, so auch als versöhnende und hei- 
ligende Macht mit unterschiedener Selbstigkeit des 
Wirkens oder als dreipersönlicher Geist. In der 
Schöpfung wird er durch freie Auswirkung dessen, 
was er beschlossen trägt in seinem natürlichen 
Lebensgrund, zuerst offenbar als gebärende, erzeu- 
gende Macht, um durch Ingeburt des Sohnes und 
Aushauchung des Heiligen Geistes die Kreatur 
sodann übernatürlicherweise wiederzugebären und 
zu pneumatisieren. Infolge der ursprünglichen 
Geistersünde und um so mehr noch infolge der 
Adamsfünde fiel die Kreatur aber der Materiali= 
sierung anheim, um durch den menschgewordenen 
Sohn als Erlöser wieder reintegriert zu werden 
und die himmlische Verklärung zu finden. Die 
zeitliche Welt soll zur ewigen Welt, die materielle 
Natur zu einer pneumatischen Natur und der 
Geist naturfrei, obwohl nicht naturlos, werden. 
Hiermit ist nicht bloß dem menschlichen Einzel- 
leben, sondern auch dem menschlichen Gesell- 
schaftsleben sein Ziel vorgezeichnet. 
Diese Gesamtanschauung erteilt auch der „So- 
zietätsphilosophie“ Baaders ihr eigentümliches 
Gepräge. Sie liegt fragmentarisch zerstreut durch 
die verschiedensten Abhandlungen vor; die 1831 
bis 1832 über dieselbe gehaltenen Vorlesungen 
XIV 30/160) sind von bloß einleitender Na- 
tur, ohne zum Abschluß gekommen zu sein. Sie 
Baader. 
  
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ist philosophische Gesellschaftslehre in des Wortes 
umfassendster Bedeutung, also nicht bloß philo- 
sophische Lehre von dem rechtlichen und staatlichen, 
sondern auch von dem sozial-bürgerlichen, ethischen, 
kirchlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen 
Gesellschaftsleben. Sie ist ihrem Prinzip nach 
religiös, sofern sie Gott zu ihrem obersten Ver- 
pflichtungsgrund hat. Geht das rechtliche Ge- 
meinwesen auch nur auf die freie Verwirklichung 
der äußeren Rechtsordnung (V 359/360), so 
hat diese doch gleich dem sittlich-religiösen Gemein- 
wesen Gott zu ihrem obersten Verpflichtungs- 
grund und soll zudem auch vom Geist der sitt- 
lich-religiösen Gottesliebe durchdrungen werden, 
um ein wahrhaft freies Gemeinwesen zu kon- 
stituieren. Nicht die von Natur aus gleichen 
Menschen, sondern Gott ist die Quelle aller Ver- 
bindlichkeit, der rechtlichen wie der ethischen, ihm 
müssen sie also unterworfen sein. Da nämlich 
„kein Mensch von sich selber das Recht haben 
kann, seinesgleichen zu befehlen, und keiner die 
Pflicht, seinesgleichen zu gehorchen, so vermochten 
auch die Menschen nicht, sich zu einigen oder zur 
Gesellschaft zu konstituieren, und nur ihre Gesell- 
schaft mit Gott konnte und kann jene unter sich 
begründen“; der Ursprung der Autorität kann in- 
folgedessen nicht unter dem Menschen und nicht 
im Menschen, sondern nur über dem Menschen 
gefunden werden (V 166 296). Die Religion 
pricht in ihrem Hauptgebot: „Liebe Gott über 
alles, deinen Nächsten aber wie dich selbst“, das 
Prinzip alles wahrhaft freien Gemeinlebens und 
Gemeinwesens, aller wahren Freiheit und Gleich- 
heit aus; dies ist das „christlich-soziale Prinzip“ 
(VI 94), während das Prinzip aller unfreien 
Gemeinschaft, aller Despotie durch die entgegen- 
gesetzte Maxime ausgesprochen wird: „Liebe dich 
selber über alles, Gott und deinen Nächsten um 
deiner selbst willen“ (VI 15). 
Somit ist Baader gegen das Bestreben neuerer 
Staatskünstler und Philosophen, das Recht von 
unten auf zu konstituieren; denn „was jeder ein- 
zelne Mensch nicht hat, das haben alle zusammen 
auch nicht, und die Summe (Versammlung) der 
Bürger macht so wenig einen Regenten, als die 
Summe aller abhängigen Weltwesen einen selb- 
ständigen Gott, d. h. der politische Pantheismus 
ist nicht minder unvernünftig als der philo- 
sophische“, es kann deshalb „die allgemeine Ge- 
sellschaft oder die große Welt nur organisch, d. h. 
nur als ein Mensch im großen (homme général) 
und nicht per aggregationem oder mechanisch 
begriffen werden“ (V 46 57 78). Die neueren 
Philosophen reißen den Menschen aus dem ge- 
selligen Lebensverband los, indem sie ihn „auf 
die wüste Insel ihrer Spekulation versetzen und 
einem schlimmeren Schicksal als dem eines Robin- 
son Crusoe preisgeben“, um ihn diesem unnatür- 
lichen Stand, den sie einen natürlichen nennen, 
alsdann durch die zwingende Gewalt der einzelnen 
oder, was auf das nämliche hinauskommt, durch 
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