527
Das Christentum hat sich der Ausbildung der
Stände und der Korporationen, der weltlichen und
der geistlichen, stets als günstig erwiesen, und
Fr. Schlegel nennt die Kirche selbst mit Recht die
erste Innung und der Innungen Mutter (V 290).
Wenrn die Aktion der obersten Macht unvermittelt
auf das Individuum fällt, so wirkt sie notwendig
erdrückend und despotisch, es entsteht ein Über-
gewicht des Mechanismus über den Organismus,
die Regierungsfunktionen multiplizieren sich not-
wendig ins Unendliche, weil die Regierung nicht
mehr mit dem Stand, sondern mit den Individuen
unmittelbar verkehrt, der öffentliche Kredit schwin-
det, denn nur der ständische und korporative Kredit
ist der wahre, ebenso schwindet mit der Schwächung
und dem Untergang des ständischen und aristo-
kratischen Prinzips der esprit de corps und so-
mit die Ehre (V 290/291). Ganz anders, wenn
die Gesellschaft eine ständische und korporative
Gliederung besitzt. Sie ist im Fall politischer
Störungen dann eher bewahrt vor tiefeingreifenden
Erschütterungen und setzt der Leichtbeweglichkeit
des Kapitals und der Massenverarmung einen
wirksamen Damm entgegen. Freilich aber muß
den gesellschaftlichen Verbänden eine den Anfor-
derungen der Zeit entsprechende Gestaltung ge-
geben werden, wenn sie als heilsam sich erweisen
sollen; denn „hätten manche Korporationen sich
nicht innerlich säkularisiert, so würde ihre äußere
Säkularisation wohl unterblieben sein“ (V 279).
Die an sich guten und notwendigen Assoziationen
haben fernerhin ihre Wirkungssphäre nicht zu über-
schreiten und in die Regierungsfunktionen störend
einzugreifen, sondern vielmehr den gesellschafts-
feindlichen Assoziationen, Rotten und Banden, die
geheim oder offenbar als Illuminatismus und
Jakobinismus sich der Regierungsgewalt zu be-
mächtigen trachten, wirksam entgegenzutreten (V.
302). — Ein drittes soziales Heilmittel besteht
zwar nicht in einer einfachen Rückkehr zur alten
Naturalwirtschaft, wohl aber in einer neuen
Verbindung der Naturalwirtschaft
mit der bloßen Geldwirtschaft. Wie die
Kirche, so soll auch der Landesherr wieder mehr auf
Güterbesitz angewiesen werden; die alte Benennung
„Landesherr“ hat eine tiefe, nicht bloß historische
Bedeutung (VI 65 133). Ein starker Grund-
besitzadel soll dem Geldadel entgegenwirken; die
grund= und bodenlos gewordenen Sozialinstitute
sollen von der Umschnürung der Geldmacht wieder
losgebunden werden, nicht auf Einschreibungen
in das große Sünden= und Schuldregister oder
auf Pensionen und Sold, sondern auf heimat-
lichen Grund und Boden sollen sie wieder fun-
diert werden; das schlechte Prinzip der neueren
Landwirtschaft, gemäß welchem der früher un-
trennbare und insofern einer ehelichen Verbindung
ähnliche Zusammenhang des Erbstücks mit der
Familie zu einer mobilen und zeitweisen Nutzungs-
spekulation des humus degradiert wird, soll fallen
gelassen werden usw. (V 715; VI 308/312).
Baader.
528
Als soziales Heilmittel bezeichnet Baader die
Preisgebung unbedingter Gewerbefreiheit
nach innen hin und unbedingter Handelsfrei-
heit nach außen hin. Die unbedingt freie Ge-
werbskonkurrenz ist der Krieg aller gegen alle; aus
ihm entstehen „schnelle Glückswechsel, Zunahme
des allgemeinen Schwindelgeistes und schnelles
Uüberreichwerden einzelner, sowie das Verarmen
anderer Stände und Individuen, welche beide dem
Staat über lang oder kurz eine völlige Auflösung
bereiten". Der aus einer solchen freien Konkurrenz
entstehenden Ubervorteilung kann nur dadurch ge-
steuert werden, daß ein Gleichgewicht zwischen
den einzelnen Gewerbszweigen durch den Staat
hergestellt werde mittels zeitgemäß organisierter
obligatorischer Innungen oder Zünfte (VI 6/8).
Ebenso ist ein unbedingter Freihandel der Krieg
aller Nationen gegen alle; bei der herrschenden
allgemeinen Anarchie des Welthandels und bei
dem Despotismus, den besonders eine einzelne
Nation über alle andern Nationen auszuüben
strebt, würde eine völlige Preisgebung des aus-
wärtigen Handels an das mit dem Interesse des
Auslands im Bunde stehende Privatinteresse des
Kaufmanns zu nichts anderem führen, als das
wirtschaftlich schwache Land zur Kolonie des stär-
keren zu machen. Das Freihandelssystem oder
das „passive Wirtschaftssystem“ A. Smiths ist so-
mit verwerflich. Der Staat hat den Widerstreit
der Interessen des Bauern-, Gewerbs= und Kauf-
mannsstandes dadurch zu lösen, daß er die mög-
lichste Vereinigung des Wohlstands aller anstrebe
und selbst durch Zwangsanstalten schütze, wo immer
und solange dieses Gesamtinteresse eine völlig freie
Konkurrenz mit andern Nationen nicht gestattet.
Ein Staat hat die Unabhängigkeit in Handel und
Wandel, wie Fichte mit Recht behauptet, in der
Art zum Ideal zu machen, daß er ein geschlossener
Handelsstaat werden könnte. Damit ist aber nicht
gesagt, daß er auch schlechthin ein solcher werden
solle, daß er selbst in dem Fall, als er Kraft genug
besäße, mit dem Ausland in manchen Artikeln
oder am Ende in allen freie Konkurrenz zu er-
tragen, nicht Handelsfreiheit anstreben und ein-
führen könnte (VI 6,8 170/176 185/190 220
229 ff). Baader hat nach dieser Seite hin in den
wesentlichsten Punkten das „nationale System der
politischen Okonomie“ von Fr. List antizipiert.
Ein soziales Heilmittel ist endlich eine dem
vierten Stand zu gewährende Reprä-
sentation. Nicht bloß Polizei= und Wohl-
tätigkeitsanstalten sind für die Proletärs oder
Vermögenslosen zu begründen, sondern auch eine
Rechtsanstalt. Sie müssen wieder „eingebürgert"“
werden, d. h. mit Furcht und Hoffnung am Leben
der Gesamtheit beteiligt (VI 139). Die Ver-
mögenslosen sollen zwar kein Recht der „Mit-
beratung, Mitgesetzgebung, der Zensur und Ad-
ministration“ haben wie die Vermögenden, aber es
soll ein „Arbeiter= und Armenlandrat“ eingesetzt
werden, welcher in den allgemeinen Ständever-