Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Das Christentum hat sich der Ausbildung der 
Stände und der Korporationen, der weltlichen und 
der geistlichen, stets als günstig erwiesen, und 
Fr. Schlegel nennt die Kirche selbst mit Recht die 
erste Innung und der Innungen Mutter (V 290). 
Wenrn die Aktion der obersten Macht unvermittelt 
auf das Individuum fällt, so wirkt sie notwendig 
erdrückend und despotisch, es entsteht ein Über- 
gewicht des Mechanismus über den Organismus, 
die Regierungsfunktionen multiplizieren sich not- 
wendig ins Unendliche, weil die Regierung nicht 
mehr mit dem Stand, sondern mit den Individuen 
unmittelbar verkehrt, der öffentliche Kredit schwin- 
det, denn nur der ständische und korporative Kredit 
ist der wahre, ebenso schwindet mit der Schwächung 
und dem Untergang des ständischen und aristo- 
kratischen Prinzips der esprit de corps und so- 
mit die Ehre (V 290/291). Ganz anders, wenn 
die Gesellschaft eine ständische und korporative 
Gliederung besitzt. Sie ist im Fall politischer 
Störungen dann eher bewahrt vor tiefeingreifenden 
Erschütterungen und setzt der Leichtbeweglichkeit 
des Kapitals und der Massenverarmung einen 
wirksamen Damm entgegen. Freilich aber muß 
den gesellschaftlichen Verbänden eine den Anfor- 
derungen der Zeit entsprechende Gestaltung ge- 
geben werden, wenn sie als heilsam sich erweisen 
sollen; denn „hätten manche Korporationen sich 
nicht innerlich säkularisiert, so würde ihre äußere 
Säkularisation wohl unterblieben sein“ (V 279). 
Die an sich guten und notwendigen Assoziationen 
haben fernerhin ihre Wirkungssphäre nicht zu über- 
schreiten und in die Regierungsfunktionen störend 
einzugreifen, sondern vielmehr den gesellschafts- 
feindlichen Assoziationen, Rotten und Banden, die 
geheim oder offenbar als Illuminatismus und 
Jakobinismus sich der Regierungsgewalt zu be- 
mächtigen trachten, wirksam entgegenzutreten (V. 
302). — Ein drittes soziales Heilmittel besteht 
zwar nicht in einer einfachen Rückkehr zur alten 
Naturalwirtschaft, wohl aber in einer neuen 
Verbindung der Naturalwirtschaft 
mit der bloßen Geldwirtschaft. Wie die 
Kirche, so soll auch der Landesherr wieder mehr auf 
Güterbesitz angewiesen werden; die alte Benennung 
„Landesherr“ hat eine tiefe, nicht bloß historische 
Bedeutung (VI 65 133). Ein starker Grund- 
besitzadel soll dem Geldadel entgegenwirken; die 
grund= und bodenlos gewordenen Sozialinstitute 
sollen von der Umschnürung der Geldmacht wieder 
losgebunden werden, nicht auf Einschreibungen 
in das große Sünden= und Schuldregister oder 
auf Pensionen und Sold, sondern auf heimat- 
lichen Grund und Boden sollen sie wieder fun- 
diert werden; das schlechte Prinzip der neueren 
Landwirtschaft, gemäß welchem der früher un- 
trennbare und insofern einer ehelichen Verbindung 
ähnliche Zusammenhang des Erbstücks mit der 
Familie zu einer mobilen und zeitweisen Nutzungs- 
spekulation des humus degradiert wird, soll fallen 
gelassen werden usw. (V 715; VI 308/312). 
  
Baader. 
  
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Als soziales Heilmittel bezeichnet Baader die 
Preisgebung unbedingter Gewerbefreiheit 
nach innen hin und unbedingter Handelsfrei- 
heit nach außen hin. Die unbedingt freie Ge- 
werbskonkurrenz ist der Krieg aller gegen alle; aus 
ihm entstehen „schnelle Glückswechsel, Zunahme 
des allgemeinen Schwindelgeistes und schnelles 
Uüberreichwerden einzelner, sowie das Verarmen 
anderer Stände und Individuen, welche beide dem 
Staat über lang oder kurz eine völlige Auflösung 
bereiten". Der aus einer solchen freien Konkurrenz 
entstehenden Ubervorteilung kann nur dadurch ge- 
steuert werden, daß ein Gleichgewicht zwischen 
den einzelnen Gewerbszweigen durch den Staat 
hergestellt werde mittels zeitgemäß organisierter 
obligatorischer Innungen oder Zünfte (VI 6/8). 
Ebenso ist ein unbedingter Freihandel der Krieg 
aller Nationen gegen alle; bei der herrschenden 
allgemeinen Anarchie des Welthandels und bei 
dem Despotismus, den besonders eine einzelne 
Nation über alle andern Nationen auszuüben 
strebt, würde eine völlige Preisgebung des aus- 
wärtigen Handels an das mit dem Interesse des 
Auslands im Bunde stehende Privatinteresse des 
Kaufmanns zu nichts anderem führen, als das 
wirtschaftlich schwache Land zur Kolonie des stär- 
keren zu machen. Das Freihandelssystem oder 
das „passive Wirtschaftssystem“ A. Smiths ist so- 
mit verwerflich. Der Staat hat den Widerstreit 
der Interessen des Bauern-, Gewerbs= und Kauf- 
mannsstandes dadurch zu lösen, daß er die mög- 
lichste Vereinigung des Wohlstands aller anstrebe 
und selbst durch Zwangsanstalten schütze, wo immer 
und solange dieses Gesamtinteresse eine völlig freie 
Konkurrenz mit andern Nationen nicht gestattet. 
Ein Staat hat die Unabhängigkeit in Handel und 
Wandel, wie Fichte mit Recht behauptet, in der 
Art zum Ideal zu machen, daß er ein geschlossener 
Handelsstaat werden könnte. Damit ist aber nicht 
gesagt, daß er auch schlechthin ein solcher werden 
solle, daß er selbst in dem Fall, als er Kraft genug 
besäße, mit dem Ausland in manchen Artikeln 
oder am Ende in allen freie Konkurrenz zu er- 
tragen, nicht Handelsfreiheit anstreben und ein- 
führen könnte (VI 6,8 170/176 185/190 220 
229 ff). Baader hat nach dieser Seite hin in den 
wesentlichsten Punkten das „nationale System der 
politischen Okonomie“ von Fr. List antizipiert. 
Ein soziales Heilmittel ist endlich eine dem 
vierten Stand zu gewährende Reprä- 
sentation. Nicht bloß Polizei= und Wohl- 
tätigkeitsanstalten sind für die Proletärs oder 
Vermögenslosen zu begründen, sondern auch eine 
Rechtsanstalt. Sie müssen wieder „eingebürgert"“ 
werden, d. h. mit Furcht und Hoffnung am Leben 
der Gesamtheit beteiligt (VI 139). Die Ver- 
mögenslosen sollen zwar kein Recht der „Mit- 
beratung, Mitgesetzgebung, der Zensur und Ad- 
ministration“ haben wie die Vermögenden, aber es 
soll ein „Arbeiter= und Armenlandrat“ eingesetzt 
werden, welcher in den allgemeinen Ständever-
	        
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