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Parteien, Zeugen, Sachverständige oder bei der
Verhandlung nicht beteiligte Personen wegen Ver-
stoßes gegen die Ordnung oder wegen begangener
Ungebühr zulässigen Haftstrafen auch gegen Ab-
geordnete anwendbar sind. — Die Mißstände,
welche sich aus dem Hindernis des Beginns bzw.
aus der Unterbrechung der Untersuchung bezüglich
der Verjährung der Strafverfolgung ergeben konn-
ten, sind durch das Gesetz vom 26. März 1893
beseitigt (§ 69 des Strafgesetzbuchs). Danach ruht
die Verjährung der Strafverfolgung während der
Zeit, in welcher gegen den Abgeordneten die Unter-
suchung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt wer-
den konnte.
Ob die hier speziell in Rede stehenden Immuni-
tätsvorschriften, soweit sie Landesgesetze sind — also
abgesehen von dem Art. 31 der Reichsverfassung,
der, wie die unter Nr 2 behandelte Vorschrift des
§ 11 des Strafgesetzbuchs, als Reichsgesetz überall
im Reich zu berücksichtigen ist —, auch außerhalb
des Territoriums, für welches sie erlassen sind, den
Abgeordneten schützen, ob z. B. ein preußischer Ab-
geordneter, der während einer Session des preußi-
schen Landtags in Anhalt, wo Immunität in dem
hier fraglichen Sinn nicht besteht, eine strafbare
Handlung begeht, in dem letzteren Bundesstaat
zur Untersuchung gezogen und verhaftet werden
könne, ist streitig geworden. Während von einer
Seite die rechtliche Pflicht der Rücksichtnahme auf
die auswärtige Abgeordnetenqualität behauptet
wird, kommt eine andere Ansicht zu dem Resultat,
daß der Zustand in Deutschland der wechselseitiger
Nichtbeachtung ist, daß der Abgeordnete demgemäß
außerhalb des Bundesstaats, dem er angehört,
keinen Schutz genieße. Weder die Gründe für die
eine oder für die andere Ansicht noch auch die
Wirkungen, die beide im Gefolge haben, können
befriedigen. Eine gegenseitige Rücksichtnahme führt
dazu, daß gegebenenfalls die anhaltischen Gerichte,
um bei dem Beispiel zu bleiben, den preußischen
Abgeordneten frei ausgehen lassen müssen, den
eigenen aber, der mit dem preußischen gemein-
schaftliche Sache gemacht hat, in Untersuchungs-
haft nehmen können; die gegenseitige Ignorierung
ist aber mit dem Charakter des Reichs als eines
Bundesstaats unverträglich.
4. Immunität. Die Immnnität der Ab-
geordneten hat, was die deutschen Verhältnisse
anlangt, eine umfangreiche Literatur aufzuweisen.
Auf der einen Seite wird sie unbedingt für er-
forderlich erachtet, wenn die Volksvertretung ihrer
Aufgabe soll gerecht werden können, und es
wird die Ausdehnung noch über das von dem
Reich und von Preußen gewährleistete Maß so-
wie die Beseitigung der unter Nr 3 geschil-
derten Rechtsungleichheit auf der Grundlage der
Reichsgarantien befürwortet; auf der andern
Seite wird sie als gegen das Prinzip der Rechts-
gleichheit verstoßend und, wie die Beispiele der
ältesten konstitutionell regierten Länder ergeben,
als entbehrlich bezeichnet; die Redefreiheit ins-
Abgeordneter.
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besondere wird als etwas für das gesunde und
natürliche Rechtsgefühl Unerträgliches dargestellt.
Wo die Gegnerschaft gegen die Immunität am
schärfsten, da scheinen mir die Gründe am
schwächsten zu sein. Ob ein einzelner Abgeord-
neter wegen einer strafbaren Handlung einmal
den parlamentarischen Geschäften auf kürzere oder
längere Zeit entzogen wird — daß die Majorität
oder auch nur ein nennenswerter Prozentsatz sich
der Regel nach in dieser Lage befindet, wird ja
wohl nicht behauptet noch weniger durch Tat-
sachen belegt —, dürfte für das betreffende Parla-
ment als Ganzes und für die Durchführung seiner
Aufgabe unerheblich sein; das ist erprobt durch
die Vollstreckung von Freiheitsstrafen während der
Sessionszeit. Diese Garantie wäre also um des-
willen entbehrlich;sie ist nur notwendig, um tenden-
ziöse Verfolgungen unmöglich zu machen. Anders
ist es mit der Redefreiheit; sie ist um ihrer selbst
willen erforderlich als die unerläßliche Vorbe-
dingung einer unbefangenen Ausübung des Be-
rufs als Abgeordneter. Im Hintergrund der da-
gegen angeführten Gründe liegt fast stets die
Auffassung versteckt, als handle es sich bei der
Immunität um eine den Personen der Abgeord-
neten gewährte Begünstigung, um ein Privilegium
derselben. Das ist indessen durchaus falsch; in der
Immunität kommt vielmehr lediglich das Recht
der Volksvertretung selbst zur Geltung. Bei der
Garantie gegen Strafverfolgung und Verhaftung
ergibt sich dies ja auch unmittelbar aus dem Aus-
druck; aber auch bei der Redefreiheit ist dies der
Fall. Mag man sich von den oben unter Nr I mit-
geteilten rechtsphilosophischen Ansichten über das
Wesen der Volksvertretung und der Abgeordneten-
stellung anschließen, welcher man will, immer wird
festzuhalten sein, daß der Vertretungskörper als
Ganzes entweder alleiniger Träger oder wenig-
stens einer der unter sich gleichberechtigten Faktoren
der gesetzgebenden Gewalt und als solcher juristisch
unverantwortlich und unverletzlich ist. Das gleiche
trifft zwar nicht auch auf den einzelnen Abgeord-
neten zus er ist nicht das Gesetzgebungsorgan selbst;
er ist aber eine der Personen, in denen dieses in
die Erscheinung, in Wirksamkeit tritt. Diese Wirk-
samkeit muß daher wie die des Vertretungskörpers
selbst frei und unbehindert und unverantwortlich
in Ausübung des Berufs sein, der unter anderem
auch darin hervortritt, alle in gutem Glauben als
bestehend angenommenen Schäden aufzudecken und
auf Abhilfe zu drängen; diese Wirksamkeit selbst
würde aber getroffen, wenn der einzelne Abgeord-
nete in seiner Redefreiheit beengt würde. Im
übrigen hat die Redefreiheit der Abgeordneten ein
zutreffendes Analogon in den Befugnissen aller
Staatsbeamten, namentlich der zur Anklage-
erhebung berechtigten Behörden. Gibt es doch eine
von namhaften Gelehrten vertretene Ansicht, daß
lediglich aus dem Wesen der konstitutionellen Ver-
fassungen, ganz abgesehen von etwaigen positiv-
rechtlichen Bestimmungen, schon die Frage, ob