Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

35 
Parteien, Zeugen, Sachverständige oder bei der 
Verhandlung nicht beteiligte Personen wegen Ver- 
stoßes gegen die Ordnung oder wegen begangener 
Ungebühr zulässigen Haftstrafen auch gegen Ab- 
geordnete anwendbar sind. — Die Mißstände, 
welche sich aus dem Hindernis des Beginns bzw. 
aus der Unterbrechung der Untersuchung bezüglich 
der Verjährung der Strafverfolgung ergeben konn- 
ten, sind durch das Gesetz vom 26. März 1893 
beseitigt (§ 69 des Strafgesetzbuchs). Danach ruht 
die Verjährung der Strafverfolgung während der 
Zeit, in welcher gegen den Abgeordneten die Unter- 
suchung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt wer- 
den konnte. 
Ob die hier speziell in Rede stehenden Immuni- 
tätsvorschriften, soweit sie Landesgesetze sind — also 
abgesehen von dem Art. 31 der Reichsverfassung, 
der, wie die unter Nr 2 behandelte Vorschrift des 
§ 11 des Strafgesetzbuchs, als Reichsgesetz überall 
im Reich zu berücksichtigen ist —, auch außerhalb 
des Territoriums, für welches sie erlassen sind, den 
Abgeordneten schützen, ob z. B. ein preußischer Ab- 
geordneter, der während einer Session des preußi- 
schen Landtags in Anhalt, wo Immunität in dem 
hier fraglichen Sinn nicht besteht, eine strafbare 
Handlung begeht, in dem letzteren Bundesstaat 
zur Untersuchung gezogen und verhaftet werden 
könne, ist streitig geworden. Während von einer 
Seite die rechtliche Pflicht der Rücksichtnahme auf 
die auswärtige Abgeordnetenqualität behauptet 
wird, kommt eine andere Ansicht zu dem Resultat, 
daß der Zustand in Deutschland der wechselseitiger 
Nichtbeachtung ist, daß der Abgeordnete demgemäß 
außerhalb des Bundesstaats, dem er angehört, 
keinen Schutz genieße. Weder die Gründe für die 
eine oder für die andere Ansicht noch auch die 
Wirkungen, die beide im Gefolge haben, können 
befriedigen. Eine gegenseitige Rücksichtnahme führt 
dazu, daß gegebenenfalls die anhaltischen Gerichte, 
um bei dem Beispiel zu bleiben, den preußischen 
Abgeordneten frei ausgehen lassen müssen, den 
eigenen aber, der mit dem preußischen gemein- 
schaftliche Sache gemacht hat, in Untersuchungs- 
haft nehmen können; die gegenseitige Ignorierung 
ist aber mit dem Charakter des Reichs als eines 
Bundesstaats unverträglich. 
4. Immunität. Die Immnnität der Ab- 
geordneten hat, was die deutschen Verhältnisse 
anlangt, eine umfangreiche Literatur aufzuweisen. 
Auf der einen Seite wird sie unbedingt für er- 
forderlich erachtet, wenn die Volksvertretung ihrer 
Aufgabe soll gerecht werden können, und es 
wird die Ausdehnung noch über das von dem 
Reich und von Preußen gewährleistete Maß so- 
wie die Beseitigung der unter Nr 3 geschil- 
derten Rechtsungleichheit auf der Grundlage der 
Reichsgarantien befürwortet; auf der andern 
Seite wird sie als gegen das Prinzip der Rechts- 
gleichheit verstoßend und, wie die Beispiele der 
ältesten konstitutionell regierten Länder ergeben, 
als entbehrlich bezeichnet; die Redefreiheit ins- 
  
  
Abgeordneter. 
  
36 
besondere wird als etwas für das gesunde und 
natürliche Rechtsgefühl Unerträgliches dargestellt. 
Wo die Gegnerschaft gegen die Immunität am 
schärfsten, da scheinen mir die Gründe am 
schwächsten zu sein. Ob ein einzelner Abgeord- 
neter wegen einer strafbaren Handlung einmal 
den parlamentarischen Geschäften auf kürzere oder 
längere Zeit entzogen wird — daß die Majorität 
oder auch nur ein nennenswerter Prozentsatz sich 
der Regel nach in dieser Lage befindet, wird ja 
wohl nicht behauptet noch weniger durch Tat- 
sachen belegt —, dürfte für das betreffende Parla- 
ment als Ganzes und für die Durchführung seiner 
Aufgabe unerheblich sein; das ist erprobt durch 
die Vollstreckung von Freiheitsstrafen während der 
Sessionszeit. Diese Garantie wäre also um des- 
willen entbehrlich;sie ist nur notwendig, um tenden- 
ziöse Verfolgungen unmöglich zu machen. Anders 
ist es mit der Redefreiheit; sie ist um ihrer selbst 
willen erforderlich als die unerläßliche Vorbe- 
dingung einer unbefangenen Ausübung des Be- 
rufs als Abgeordneter. Im Hintergrund der da- 
gegen angeführten Gründe liegt fast stets die 
Auffassung versteckt, als handle es sich bei der 
Immunität um eine den Personen der Abgeord- 
neten gewährte Begünstigung, um ein Privilegium 
derselben. Das ist indessen durchaus falsch; in der 
Immunität kommt vielmehr lediglich das Recht 
der Volksvertretung selbst zur Geltung. Bei der 
Garantie gegen Strafverfolgung und Verhaftung 
ergibt sich dies ja auch unmittelbar aus dem Aus- 
druck; aber auch bei der Redefreiheit ist dies der 
Fall. Mag man sich von den oben unter Nr I mit- 
geteilten rechtsphilosophischen Ansichten über das 
Wesen der Volksvertretung und der Abgeordneten- 
stellung anschließen, welcher man will, immer wird 
festzuhalten sein, daß der Vertretungskörper als 
Ganzes entweder alleiniger Träger oder wenig- 
stens einer der unter sich gleichberechtigten Faktoren 
der gesetzgebenden Gewalt und als solcher juristisch 
unverantwortlich und unverletzlich ist. Das gleiche 
trifft zwar nicht auch auf den einzelnen Abgeord- 
neten zus er ist nicht das Gesetzgebungsorgan selbst; 
er ist aber eine der Personen, in denen dieses in 
die Erscheinung, in Wirksamkeit tritt. Diese Wirk- 
samkeit muß daher wie die des Vertretungskörpers 
selbst frei und unbehindert und unverantwortlich 
in Ausübung des Berufs sein, der unter anderem 
auch darin hervortritt, alle in gutem Glauben als 
bestehend angenommenen Schäden aufzudecken und 
auf Abhilfe zu drängen; diese Wirksamkeit selbst 
würde aber getroffen, wenn der einzelne Abgeord- 
nete in seiner Redefreiheit beengt würde. Im 
übrigen hat die Redefreiheit der Abgeordneten ein 
zutreffendes Analogon in den Befugnissen aller 
Staatsbeamten, namentlich der zur Anklage- 
erhebung berechtigten Behörden. Gibt es doch eine 
von namhaften Gelehrten vertretene Ansicht, daß 
lediglich aus dem Wesen der konstitutionellen Ver- 
fassungen, ganz abgesehen von etwaigen positiv- 
rechtlichen Bestimmungen, schon die Frage, ob
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.