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und Ferrer y Subirana, einem Juristen, vorab
in des ersteren Zeitschrift Religiön, welche von
nun an halbmonatlich als La Civilizacion er-
schien, dann nach 1 / Jahren in La Sociedad
allein (ein Jahr lang) mächtig auf die Zeitströmung
aus religiös-nationalem Gesichtspunkt einzuwirken
(1843/44). In letzterer erschienen die Cartas à
un escéptico (1/14); die letzten 11 Cartas wur-
den der Gesamtausgabe (Madrid 1845, 51894;
deutsch von Franz Lorinser, 1855/56) beige-
fügt. Diese „Briefe“ sind für die Beurteilung
der Gesamtanlage des Verfassers das Bedeut-
samste, für den weitesten Leserkreis sicherlich das
Nützlichste. Sie trafen den wundesten Fleck der
Zeit und der Menschen: die Skepsis in Sachen
des religiösen Denkens nach allen ihren Erschei-
nungen auf dem individuellen wie öffentlichen,
religiösen wie politischen und sozialen Gebiet.
In nachhaltig kräftiger, oft poetisch hinreißender
Sprache wird das Wesen und die letzte Ursache der
modernen Religions= und Gottlosigkeit dargelegt,
und es ist bewundernswert, wie Balmes das an
sich haltlose und jedem Angriff immer wieder sich
entziehende, alles auflösende Wesen der modernen
Skepsis zu fassen versteht. Wie in keiner andern
Schrift bricht sich hier der Genius des spanischen
Volkscharakters, Gläubigkeit und gesunder Men-
schenverstand, triumphierend Bahn.
Die Lage, in welcher Balmes diese umfassende
publizistische Tätigkeit entfaltete, blieb
eine der gefahrdrohendsten. Auf die erwähnte erste
Niederwerfung der Moderados durch Espartero
waren schon im Juli und Oktober 1841 neue Er-
hebungen gefolgt. Wegen Einführung des neuen
Konstriptionsgesetzes (13. Nov. 1842) kam es
15. Nov. zwischen Garnison und Volk in Barce-
lona zum Straßenkampf, in welchem erstere vom
Fort Montjuich zum Bombardement der Stadt
zu schreiten sich anschickte. Die von der Zenträl-
junta erwirkte Schonung wurde von dem herbei-
geeilten Espartero verworfen; am 3. Dez. ließ er
das Bombardement eröffnen, am 15. ergab sich
die verwüstete Stadt. 12 Mill. Realen Kriegs-
kontribution und Belagerungszustand in Perma-
nenz konnten indessen die neue Erhebung im Juni
1843 nicht hindern. Bis dahin hatte Balmes in
der Unglücksstadt ausgehalten; jetzt floh er. Nach
den Straßenkämpfen des 2. Sept. und dem neuen
Bombardement des 4. und 7. Sept. kam es im
November erst zur Unterwerfung. Als Balmes am
Tag nach der Übergabe seinen Weg durch die
Trümmerhaufen nach dem armen Haus seines
Bruders suchte, wo er wohnte, konnte er auf den
von einer Bombe verletzten Arbeitstisch seiner Dach-
stube als Frucht seiner erzwungenen Einsamkeit eine
wahre Perle unter seinen Schriften niederlegen:
El criterio (Barcelona '1867; deutsch unter dem
Titel „Weg zur Erkenntnis des Wahren“ von
Theod. Nißl, 1852). Das Buch ist mehr als eine
populäre Logik; es ist eine Art Einführung in
die Philosophie für solche, welche dieselbe nicht
Balmes.
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schulgemäß studieren. Balmes formuliert die Ge-
setze des gesunden Menschenverstandes und verfolgt
ihre Anwendung auf das eigene geistige Leben,
das äußere Verhalten, Glauben, Denken, Urteilen,
die Haupterscheinungen der Außenwelt. Genau in
den Definitionen, anziehend in der Darstellung,
tief und voll Salbung wie ein Mystiker, analysiert
Balmes, ohne sich an methodische Strenge zu
binden, meist im Anschluß an eine allen geläufige,
sofort zu kontrollierende Beobachtung. Man braucht
bloß das letzte (22.) Kapitel „Vom praktischen
Verstand“ (Separatausgabe von Heinr. Brink-
mann 1863, von Theod. Nißl 71894) zu lesen,
um das Geheimnis zu entdecken, warum diese
Schrift seinen Landsleuten die liebste wurde.
Mitten in dieser aufstrebenden Popularität kam
für Balmes der wichtigste Abschnitt seines Lebens,
insofern ihm ein unmittelbares Eingreifen in die
Politik zufiel. Narvaez hatte mit fester Hand
die Zügel der Regierung ergriffen; es galt, Spa-
nien nach all dem Elend grenzenloser revolutionärer
Zerrüttung seinen monarchischen und religiösen
Traditionen wiederzugeben. Nachdem Narvaez
in den Guardias eiviles eine stets schlagfertige
Schutzmacht gegen die revolutionären Exzesse er-
richtet, die verbannten Bischöfe zurückberufen, den
Verkauf der Kirchengüter sistiert, eine Versöhnung
mit dem Heiligen Stuhl angebahnt, die progres-
sistische Presse gezügelt und (Okt. 1844) in den
Cortes eine der nationalen Reform günstige Majo-
rität gefunden, schien es, als ob der Thron Isa-
bellas II. sich befestige. Die große Aufgabe war,
dieser Rekonstitution des Landes in den politischen
Kreisen festen Halt und nachhaltige Kraft zu
sichern, und diese Aufgabe fiel Balmes ohne sein
Zutun zu. Ein durch soziale Stellung und per-
sönliche Autorität ausgezeichneter Kreis spanischer
Adliger, der Marquis von Viluma an der Spitze,
legte ihm die Herausgabe einer politischen Zeit-
schrift nahe. Unter Wahrung seiner vollen Unab-
hängigkeit verstand sich Balmes dazu; Mitte Febr.
1844, sechs Monate nach Esparteros Sturz, er-
schien in Madrid, wohin Balmes seinen Wohnsitz
verlegte, die Zeitschrift El Pensamiento de la
naciön mit dem Programm, auf die von dem
revolutionären Konstitutionalismus emanzipierte
Monarchie die soziale Regeneration Spaniens
im Innern und dessen volle nationale Unabhängig-
keit nach außen zu bauen. Die von Balmes ge-
sforderte Revision der Verfassung von 1837 setzte
Narvaez (Mai 1845) durch. Der Eintritt Vilu-
mas, damals Gesandter in London, in die Regie-
rung scheiterte zwar; aber die Reformen gingen,
zumal nach der Unterdrückung des Espartero-
Primschen Pronunciamiento von Logrobo, ihren
Weg, und man kann sagen, daß fast drei Jahre
lang durch den publizistischen Einfluß des Pensa-
miento bie höchsten Lebensinteressen der Nation,
die Verfassungsfragen, die Kirchenfrage, die Be-
ziehungen zum Ausland, die Heiratsfrage der Kö-
nigin, so objektiv und gründlich, so ernst und ent-