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Derselbe sollte 1) die wahren ökonomischen Prin-
zipien in seiner Auffassung darlegen; 2) ihre Be-
ziehungen zu allen moralischen Wissenschaften,
insbesondere zu der Religion, nachweisen. Die
in dem schrecklichen Winter 1849/50 von ihm
entworfenen und im Frühjahr 1850 unter den
größten Leiden auf der Reise nach dem Süden
rastlos weitergeführten Bruchstücke (s. u.) zeigen,
welche bedeutsame Durchbildung seine Ideen im
Anschluß an die christlichen Grunddogmen er-
fuhren. In Eaux-Bonnes schrieb er (Juni 1850)
noch die kleine, von seltener Kraft und über-
sprudelndem Geist getragene Schrift Ce qu'on
voit et ce qu'’on ne voit pas (Paris 1850,
1869). Am 9. Sept. 1850, dem Tag der Ab-
reise nach Italien, nahm er von Cobden Abschied
mit der Bitte, ihn im Verzicht auf die Dinge dieser
Welt, auf Reichtum, Ruhm, Gesundheit, zu stützen.
In Florenz schrieb er das letzte Fragment der
Harmonies: Perfectibilité, das für die Be-
urteilung seines Geistesgangs und seiner Irrtümer
so wichtige Wort von dem unaufhaltsamen, pro-
videnziellen Fortschritt des Menschengeschlechts zu
der großen, von Gott geordneten Einheit. In
Rom (Ende November) fällt ihm die „Festigkeit
der christlichen Tradition und die Uberfülle unan-
tastbarer Zeugnisse“ so sehr auf, daß er freudig
sein Festhalten an der christlichen Idee bekennt.
Am 15. Dez. schrieb er: „Ich lerne die Ent-
sagung und finde mich in ihr reich getröstet.“ Er
empfing mehreremal die heiligen Sakramente. Am
Abend des 24. Dez. 1850 starb er. Sein letztes
Wort in Gegenwart seiner Freunde, des Abbé de
Montelar und M. Pailletot, war: „Wie glücklich
bin ich, daß nun über meinen Geist so tiefer Friede
gekommen ist. O könnte ich nur sprechen . die
Wahrheit.. ja nun begreife ich sie.“ Bastiat
war korrespondierendes Mitglied der Akademie
der politischen und moralischen Wissenschaften. In
Mugron wurde ihm ein öffentliches Denkmal er-
richtet. P. Lacordaire ließ am 11. August 1857
in Soreze nach einer denkwürdigen Ansprache seine
Büste aufstellen, und damit seinem Wirken von
der Seite nichts fehle, welche die bedeutsamste in
seinem Leben war, verhöhnte Proudhon (in De la
Justice dans la Révolution 1 229) seinen christ-
lichen Tod in ähnlicher Weise, wie Lassalle, der
deutsche Zögling der Ideen Proudhons und Louis
Blancs, dies mit der Gesamtrichtung der ökono-
mistischen Ideen Bastiats versuchte (Herr Bastiat-
Schulze von Delitzsch oder Kapital und Arbeit,
1864), immerhin die niedrige Gehässigkeit des
Franzosen meidend (a. a. O. 5 A.).
Die wissenschaftliche Bedeutung Ba-
stiats beruht unseres Erachtens auf der von ihm
zuerst erkannten und als das wissenschaftliche
Problem der zeitgenössischen Nationalökonomie
klar hingestellten Notwendigkeit der Auseinander-
setzung dieser Wissenschaft mit der christlichen bzw.
katholischen Lebens= und Weltanschauung. Er
selbst hat das Problem nur gestellt; seine For-
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mulierung war das Resultat lebenslangen For-
schens und Arbeitens im Dienst der liberal-
ökonomistischen Idee; er hat das Problem nicht
gelöst und konnte es nicht lösen. Die Voraus-
setzung, von der er ausging, die Idee vom
unbegrenzten Fortschritt, das Ziel, welches er er-
strebte, die Harmonisierung aller persönlichen und
Gesellschaftsinteressen, der Weg, auf dem er es
erstrebte, die absolute Freiheit auf allen Gebieten
und die vollendete Befriedigung des Eigeninter-
esses, endlich die Methode, welche er im Anschluß
an die älteren Schulen der Okonomisten seines
Landes festhielt, die Verwechslung der Wirtschafts-
wissenschaft mit der Sozialwissenschaft, sind irrig.
Hätte er die Nationalökonomie aufgefaßt als das,
was sie ist, als den Inbegriff der auf die mate-
rielle und sittliche Gesamtwohlfahrt eines Volkes
abzielenden individuellen und gesellschaftlichen
Tätigkeiten in Unterordnung unter Gottes Gesetz
und seine gesellschaftliche Ordnung, so würde
seine Auffassung von dem Ausgangs= und Ziel-
punkt seiner Wissenschaft in der irdischen und
ewigen Bestimmung des Menschen, wie seine Ideen
von der absoluten Freiheit in der staatlichen
Rechtsordnung, in der Idealisierung der Wirt-
schaftsinteressen als den maßgebenden Sozialinter=
essen, in der historisch-experimentalen Erforschung
des Wirtschaftslebens und der Wirtschaftsgesetze
das richtige Korrektiv und damit den Weg ge-
sunder Reform gefunden haben.
Man hat in eifriger Nachahmung der rein
negativen sozialistischen Kritik auf die vielen
Widersprüche der Bastiatschen Anschauungen
hingewiesen: auf seine schroffe Auffassung von
Freiheit und Eigentum und die wirkliche Lage und
die Bestimmung des Menschen, auf die Harmoni-
sierung aller Interessen und den schrankenlosen
Individualismus, den Antagonismus der Inter-
essen; auf die Arbeit als die bevorzugte Quelle
des Reichtums und die Berechtigung des materiellen
Genußlebens; auf die Notwendigkeit gesteigerter
Kapitalbildung und die Unterschätzung der sitt-
lichen Grundlagen der Wirtschaftlichkeit und des
Sparsinns; auf die Einschränkung der Popu-
lation und die Verhöhnung der Selbstverleug-
nung; auf die Steigerung der Produktion und
des Reichtums und die Zunahme des Pauperis-=
mus u. a. Aber abgesehen davon, daß Bastiat
dergleichen Widersprüche mit dem utilitaristischen
Okonomismus überhaupt teilt, wird bei ihm über-
sehen, daß bei der streng spiritualistischen Tendenz
seiner Lehre die Notwendigkeit eines Ausgleichs
immer wieder sich Bahr bricht in der entschlossenen
Wegwendung vom ökonomistischen Materialis-
mus. Wenn Bastiat diesen Ausgleich nach der
von ihm vollgültig entwickelten Formel des lais-
sez-faire, laissez-passer erwartete; wenn er in
immer wiederkehrender Verwechslung der Moral
mit dem Eigeninteresse letzterem eine religiöse
Sanktion andichtete, welche ihm die Selbstbe-
schränkung der Entsagung und des Opfers als