Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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und Erleichterung von An= und Verkauf von 
Grundstücken und die Beseitigung aller Hinder- 
nisse der freien Vererbung. Der ganze Komplex 
der einschlägigen, das Einzeleigentum am Grund 
und Boden befördernden Maßregeln wurde mit 
dem Namen Mobilisierung bezeichnet. Abgesehen 
von den wenigen Fideikommissen, erhielt jeder 
Eigentümer das Recht, nach seinem Ermessen sein 
Gut zu zerschlagen, Teile davon zu verkaufen, 
ebenso wie es durch andere Grundstücke zu ver- 
größern. Die auf dem Standpunkt der Smith- 
schen Schule stehende Volkswirtschaftslehre erklärle 
alle außer dem Eigentum etwa bestehenden wirt- 
schaftlichen Schranken für produktionsschädliche 
Einrichtungen und bemühte sich, die Naturgemäß- 
heit der Anderung der Agrarverfassung im indi- 
vidualistischen Sinn darzutun. Es liege, hieß es, 
im Wesen der fortschreitenden humanen Kultur, 
daß auch im Grundbesitz der Charakter des mo- 
bilen Kapitals immer mehr zur Geltung komme. 
So sehr hatte man sich unter ihrem Einfluß ge- 
wöhnt, allen landwirtschaftlichen Fortschritt zu 
messen an der Zunahme technisch-naturwissen- 
schaftlicher Kenntnisse hervorragender Landwirte 
und der Vollendung der preußischen Agrargesetz- 
gebung im Sinn unbedingter Verfügungefreiheit 
des Eigentümers über Grund und Boden, daß 
manche Vorzüge für Erhaltung des Bauernstands, 
welche die bisherige Agrarverfassung selbst in 
ihrer veralteten, verwickelten, der rationellen Land- 
wirtschaft des einzelnen in der Tat abträglichen 
Form immer noch geboten hatte, über Gebühr 
außer acht gelassen und unterschätzt wurden. 
Vor Beurteilung der Folgen der Mobilisierung 
ist ein kurzer Rückblick auf das durch diese ver- 
drängte ehemalige Bauernrecht einzu- 
schalten. Hiernach mußte der Uübernehmer 
eines bäuerlichen Guts, das er regelmäßig selbst 
bewirtschaften und nicht verpachten durfte, die ent- 
sprechenden Garantien einer guten Bewirtschaf- 
tung bieten, also körperlich wie geistig dafür ge- 
eignet sein. Damit das Bauerngut während der 
Zeit der Minderjährigkeit des Anerben nicht ver- 
wahrlose, übernahm der Interimswirt, gewöhnlich 
der zweite Mann der Witwe, die Bewirtschaftung 
der Stelle. Dafür erhielt er am Ende der Mal- 
jahre, beim Gutsantritt des Anerben eine Leib- 
zucht. Anderseits mußte der der Wirtschaft nicht 
mehr gewachsene Bauer sein Gut an einen tüch- 
tigen Wirt abtreten. Dafür verpflichtete sich der 
Gutsübernehmer behufs lebenslänglicher Erhal- 
tung, Versorgung und Verpflegung seines Guts- 
übergebers zu einer Summe von Leistungen, welche 
Ausgedinge oder Altenteil hieß. Der 
Gutsübernehmer sollte ferner die finanzielle Be- 
fähigung haben. Es liege, hieß es, im öffentlichen 
Interesse, daß den Miterben nicht mehr zuge- 
wendet werde, als die Kraft des Hofs zu tragen 
vermöge. Diese für die Miterben etwas hart 
scheinende Bestimmung rechnete eben mit der be- 
stehenden starken und guten Sitte eines lebhaften 
Bauernstand. 
  
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Familiensinns und großer verwandtschaftlicher 
Verträglichkeit. Die nicht erbenden Geschwister 
(weichende Erben) pflegten auf dem Hof beschäf- 
tigt und erhalten zu werden. Schieden sie aus, 
zumal durch Heirat, so bekamen sie eine Abfin- 
dung (Auslobung, Aussteuer, Abgüterung), die 
ursprünglich nicht allein den Hof selbst, sondern 
auch das sog. untrennbare Allod (Wirtschafts- 
inventar) so wenig wie möglich schmälern sollte. 
Diese Zuwendung näherte sich später aus kurz- 
sichtigen „Billigkeitsrücksichten“ und befördert 
durch das nicht für ein Arbeitsvolk bestimmte rö- 
mische Erbrecht mehr und mehr einer Erbportion. 
Lange Zeit half sich die von der Theorie und vom 
kodifizierten Recht unterdrückte Sitte, unterstützt 
durch die „praktischen“ Juristen, dadurch, daß 
man trotzdem noch gewohnheitsmäßig eine das 
Gesetz umgehende Vererbung nach deutschem Recht 
beibehielt. Man bewerkstelligte dies durch niedere 
Schätzung des Guts. Der Anschlag sollte ein 
„leidlicher“ sein, im „geschwisterlichen Wert“ er- 
folgen. — Der Schmälerung der Gutssubstanz 
im Verlauf der Wirtschaft war durch Ver- 
bote unwirtschaftlicher Abteilung und Belastung 
vorgebeugt. Wie die Veräußerung des ganzen 
Bauernguts regelmäßig der Einwilligung des 
Gutsherrn bedurfte (die aber nicht versagt wurde, 
wenn der neue Erwerber ein tüchtiger Wirt war, 
persona habilis), so bedurfte auch die Veräuße- 
rung einzelner Teile oder, was de facto auf das- 
selbe hinauskommt, die Verschuldung, wofür das 
Gut selbst oder dessen Wirtschaftsinventar haften 
sollte, in der Regel des gutsherrlichen Konsenses. 
— An Stelle des grundherrlichen Veräußerungs- 
konsenses trat später vielfach wenigstens ein guts- 
herrliches Näherrecht (retract, Abtriebsrecht), 
d. h. der Gutsherr hatte ein Vorkaufsrecht auf 
das zu veräußernde Gut, durfte es jedoch nicht 
für sich behalten. Verlegenheiten des Landmanns 
sollten nicht zu dessen Bedrängnis benutzt werden, 
daher war Verpfändung oder Ankauf der Feld- 
frucht auf dem Halm verboten. Das in die Bauern- 
güter durch Heirat Eingebrachte konnte, wenn 
sich die Ehe auflöste, nicht zurückgefordert werden. 
Es würde dem Gut eine zu große Last aufge- 
bürdet haben. Eine teils den Hofkräften teils den 
zugewendeten Vorteilen angemessene Leibzucht für 
den Eingeheirateten trat an die Stelle, daher der 
Spruch: Leibzucht schwindet Hauptgut. 
Zu diesen Vorkehrungen gegen erdrückende 
Überschuldung und zur Erhaltung der Existenz- 
fähigkeit der Höfebesitzer kamen allerdings noch 
andere in den staatlichen Verhältnissen wur- 
zelnde Umstände. Die öffentliche Belastung, ins- 
besondere die militärische, war gering. Aber auch 
die Anderung der Zivilverwaltung ist nicht un- 
wesentlich. Die den absolutistischen Regierungen, 
oft genug mit Recht, mißtrauenden Volksvertre- 
tungen strebten begreiflicherweise, um die Rechts- 
pflege nach oben möglichst unabhängig zu machen, 
nach Trennung von Justiz und Verwaltung bis 
 
	        
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