Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

617 
der hohen hypothekarischen Verschuldung. 
Diese wurde vorzugsweise durch Überschätzung des 
Bodenwertes bei Erbteilungen oder Kauf und 
durch Nichtbeachtung der für die Höhe der zu- 
lässigen Belastung maßgebenden Grundsätze ver- 
anlaßt. Daß man einen sog. Verkehrswert 
und einen sog. Ertragswert der Grundstücke 
unterschied, war ein Fehler, der sich bitter rächen 
mußte. Mit der hohen Verschuldung Hand in 
Hand geht dann der Mangel an Betriebskapital, 
der die Durchführung zeitgemäßer Verbesserungen 
verhindert. 
Die hohe Verschuldung hat sich ausgebildet seit 
dem letzten Drittel des 18. Jahrh. in Verbindung 
mit der auf Grundlage der individualistischen 
Theorie sich entwickelnden verkehrswirtschaftlichen 
Gestaltung der Volkswirtschaft, welche das Grund- 
eigentum frei veräußerlich und frei verschuldbar 
machte und dem gemeinen Erbrecht unterwarf. 
Man vergaß die soziale Bedeutung des Grund- 
besitzes für die Gesellschaft und ließ außer acht, 
daß für das Grundeigentum eine Rechtsordnung 
zu schaffen sei, welche sich der Eigenart des Bodens, 
seiner Unbeweglichkeit und Unvermehrbarkeit, seiner 
begrenzten Teilbarkeit und Ertragsfähigkeit ebenso 
anpaßt wie das Handelsrecht den Bedürfnissen 
und Gewohnheiten der Kaufleute. Man hatte, 
mit andern Worten, die germanische Rechtsauf- 
fassung des Grundbesitzes aus den Augen ver- 
loren. „Unser bisheriges Recht behandelt zweifel- 
los den Grundbesitz nach Möglichkeit der beweg- 
lichen Sache gleich“, sagt Professor Gierke, „stellt 
ihn hinein in den Strom der freien Konkurrenz 
wie ein bewegliches Gut. Deshalb hat dieses Recht 
seine soziale Aufgabe nicht erfüllt, indem es dazu 
drängte, den mittleren Besitz zu zerstören und den 
Besitz hineinzudrängen in die Form des Latifun- 
diums oder der Zwergwirtschaft, indem es zu 
einem häufigen Besitzwechsel führte und dem 
Grundbesitz die Bedeutung nahm, Heimat und 
dauernde Berufsstätte einer ländlichen Familie zu 
sein, die von Geschlecht zu Geschlecht der Nation 
neue Kräfte liefert. Auch seine nationale Aufgabe 
hat dieses Recht nicht erfüllt, nämlich nicht bloß 
den Grundbesitz, sondern auch die grundbesitzende 
Bevölkerung, unsern Grundbesitzer= und Bauern- 
stand, zu erhalten...Wie die Arbeit und das 
bewegliche Kapital, so ist auch der Grundbesitz 
etwas Eigenartiges. Als nicht vermehrbarer Be- 
standteil des vaterländischen Bodens kann er nie- 
mals in demselben Sinn einem einzelnen gehören 
wie eine bewegliche Sache, ist aber gleichwohl dazu 
bestimmt, dem einzelnen Individuum eine Stätte 
zu schaffen der Berufserfüllung, der Arbeit für sich 
und seine Familie und zugleich für das ganze, eine 
Stätte, auf der womöglich seine Kinder und Kin- 
deskinder den gleichen Beruf mit Freudigkeit er- 
füllen sollen. So brauchen wir also ein Recht, 
das dem Grundbesitz die Natur einer Heimstätte 
wiedergibt. Demnach soll das künftige Recht ihn 
als Rentenfonds behandeln, während das bis- 
Bauernstand. 
  
618 
herige ihn als Kapital auffaßte, und wenn das 
bisherige Recht der Auslieferung des Grundbesitzes 
an das Kapital keine Grenze setzte, so soll das 
zukünftige Recht diese Grenze ziehen.“ 
IV. Mittel zur Erhaklkung des Bauern--- 
llands. Unter dem Eindruck der geschilderten 
Notlage ist der Zusammenschluß der Landwirte 
zur einheitlichen Verfolgung gemeinsamer Ziele 
mächtig gefördert worden, und zwar nach ver- 
schiedenen Richtungen hin, einmal durch Aus- 
gestaltung des landwirtschaftlichen Vereinswesens, 
dann durch Gründung von ländlichen Genossen- 
schaften und endlich durch zusammenfassende Be- 
strebungen zum Zweck der politischen Agitation. 
In Deutschland fällt die Gründung der ersten 
landwirtschaftlichen Vereine mit den in der zweiten 
Hälfte des 18. Jahrh. auftauchenden Bestrebungen 
zur Förderung der landwirtschaftlichen Produktion 
zusammen. Zu den ältesten derartigen Vereini- 
gungen in Deutschland gehören die Thüringische 
Landwirtschaftsgesellschaft zu Weißensee und die 
Königl. Landwirtschaftsgesellschaft in Celle (Han- 
nover). Diese landwirtschaftlichen Vereine haben, 
wie auch die am 11. Dez. 1885 gegründete 
„Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft“ die 
Förderungderlandwirtschaftlichen Technikim Auge. 
Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen ent- 
wickelte sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrh., 
hat bereits jetzt eine große Bedeutung erlangt 
und verspricht eine ungeahnte Rolle, für den 
bäuerlichen Betrieb insbesondere, in der Zu- 
kunft zu spielen. Man kann drei Gruppen der 
landwirtschaftlichen Genossenschaften bezüglich des 
Gegenstandes des Unternehmens unterscheiden: 
olche zur Beschaffung der landwirtschaftlichen 
Betriebsmittel, Bezugs-, solche zum Absatz fertiger 
Rohstoffe, Absatz-, und solche zur Bearbeitung und 
zum gleichzeitigen Absatz landwirtschaftlicher Er- 
zeugnisse, Betriebsgenossenschaften. Die örtlichen 
Genossenschaften haben sich wieder in größere pro- 
vinzielle und einzelstaatliche Verbände zusammen- 
geschlossen, die ihrerseits — einige wenige aus- 
genommen — den Reichsverband der deutschen 
landwirtschaftlichen Genossenschaften (in Darm- 
stadt) bilden. Ein gemeinsames Vorgehen aller 
landwirtschaftlichen Organisationen ist für den 
Thomasmehlbezug durch die „Bezugsvereinigung 
deutscher Landwirte“ angebahnt, welche sich im 
Febr. 1900 zu einer Gesellschaft mit beschränkter 
Hastung konstituierte. Die Umgestaltung der Ge- 
setzgebung erstrebt, über die von den Bauern- 
vereinen (s. d. Art.) verfolgten Ziele hinaus- 
gehend, der am 18. Febr. 1893 gegründete 
„Bund der Landwirte“. Zugleich Förde- 
rung der Technik und Anbahnung gesetzgeberischer 
Maßnahmen im Interesse der Förderung der Land- 
wirtschaft haben zur Aufgabe die Landwirt- 
schaftskammern (s. d. Art.). 
Neben der Selbsthilfe stand unter den Vor- 
schlägen zur Abhilfe der Not der ländlichen Be- 
völkerung lange Zeit im Vordergrund des Inter- 
=
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.