Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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dem Rückfälligen gegenüber als Strasschärfungs- 
oder als Strafzumessungsgrund berücksichtigt 
werde. 
Völkerrechtlichen Charakters ist die in den 
Friedensverträgen den Untertanen der kriegführen- 
den Mächte zugesicherte Amnestie für alle Schä- 
digungen und Unbilden, welche während des 
Krieges von den Angehörigen einer Kriegspartei 
gegen die Angehörigen der andern Partei verübt 
worden sind. Dieselbe ist ein Schutz vor allem 
für die auf erobertem Gebiet wohnenden Staats- 
angehörigen; sie umfaßt aber auch die strafbaren 
Handlungen der eigenen Soldaten, welche wäh- 
rend des Krieges nicht kriegsrechtlich zur Rechen- 
schaft gezogen worden sind. Die Amnestie pflegt 
sich nicht auf Rechtsverletzungen zu beziehen, welche 
mit dem Krieg in keiner Verbindung stehen oder 
welche während des Krieges von den Angeyörigen 
der kriegführenden Staaten auf neutralem Gebiet 
gegeneinander verübt worden sind. In dem deutsch- 
französischen Friedensvertrag vom 10. Mai 1871 
erteilten die Unterzeichner denjenigen Unertanen, 
welche sich durch irgendwelche Beteiligung an den 
Kriegsereignissen zugunsten des Gegners kom- 
promittiert hatten, volle Amnestie, und zwar auch 
denjenigen Untertanen der kriegführenden Parteien, 
welche während des Krieges ihr früheres Dienst- 
verhältnis bei einem der andern Kriegführenden 
fortgesetzt haben. Kein Bewohner der abgetretenen 
Gebiete sollte in seiner Person oder seinem Ver- 
mögen wegen seiner politischen oder militärischen 
Handlungen während des Krieges verfolgt,, gestört 
oder zur Untersuchung gezogen werden dürfen. 
Literatur. Geib, Lehrb. des deutschen Straf- 
rechts II (1862) 151/165 (enthält den Nachweis der 
vorhergehenden Lit.); Vasalli, Krit. Untersuchungen 
über das B.#srecht (1867); Wahlberg, Ges. kleine 
Schriften II (1875/82) 122 ff; Heinze, Strafpro= 
zessuale Erörterungen (1875) 121 ff# sowie in 
v. Holtzendorffs Handb. des deutschen Strafrechts II 
(1871/74) 629 ff; Löwe, Strafprozeßordn. für das 
Deutsche Reich 25/27; Loeb, Das B. Srecht (1881); 
Merkel, über die B.skompetenz im röm. Strafprozeß 
(1881); Sander, über das B.Frecht der Stadt Feld- 
kirch (1883); Binding, Handb. des Strafrechts I 
(11901); Seuffert, Art. „B.“ in Stengels Wörterb. 
des deutschen Verwaltungsrechts; Heimberger, Das 
landesherrl. Abolitionsrecht (1901); v. Liszt, Lehrb. 
d. deutschen Strafrechts (71905). (Spahn.]) 
Begnadigung, bedingte. In der Straf- 
rechtspflege drängt sich die Wahrnehmung der 
schwerwiegenden Nachteile der kurzzeitigen Frei- 
heitsstrafe auf. Dieselbe erscheint vielfach vom 
Standpunkt der Vergeltung hart, vom Stand- 
punkt der Abschreckung wirkungslos, vom Stand- 
punkt der Besserung aber schädlich. Letzteres gilt 
besonders für die erstmalig mit dem Strafgesetz in 
Konflikt Gekommenen: bei diesen drückt nicht selten 
die Verbüßung einer Freiheitsstrafe an sich das 
moralische Niveau herab und schwächt die sittliche 
Widerstandskraft; für nicht wenige bedeutet die 
erste Gefängnisstrafe in ihren Folgen die Ver- 
Begnadigung, bedingte. 
  
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nichtung der Existenz des Verurteilten und drängt 
ihn fast gewaltsam vorwärts in der Bahn der 
UÜbertretung der Strafgesetze. Dazu kommt, daß 
die Art des Strafvollzugs, bei welchem hier das 
System der Einzelhaft, der Absonderung des Ge- 
fangenen nicht oder nur in beschränktem Maß zur 
Anwendung gelangen kann, die Möglichkeit einer 
bessernden Einwirkung auf den zu kurzer Freiheits- 
strafe Verurteilten erschwert. So wird dann die 
erste kurze Gefängnisstrafe nur zu oft der Beginn 
einer langen Verbrecherlaufbahn. 
Diese Erkenntnis hat in einer Reihe von Län- 
dern zur Einführung der sog. bedingten Ver- 
urteilung geführt, wodurch dem zum erstenmal 
mit dem Strafgesetz in Konflikt Gekommenen die 
Möglichkeit gegeben wird, durch straffreies Ver- 
halten während einer gewissen Frist den Straf- 
vollzug abzuwenden. Die bedingte Verurteilung 
in diesem Sinn ist eingeführt in Massachusetts 
(1869 bzw. 1878), England (1887), Belgien 
(1888), Frankreich (1891), Neuenburg, Luxem- 
burg, Genf und Waadt, Portugal, Norwegen 
(1894, abgeändert durch das neue Strafgesetzbuch 
von 1905), die englischen Kolonien Neuseeland 
und Oueensland, Südaustralien, Kanada, Vik- 
toria, Westaustralien und Neusüdwales (1886/94), 
Italien (1904), Dänemark (1905), Japan (1905), 
Basel-Stadt (1906). Die norwegischen, dänischen, 
japanischen und Baseler Bestimmungen gehen jedoch 
nicht vom Standpunkt der bedingten Verurteilung, 
sondern des bedingten Straferlasses aus (s. u.). 
Ebenso der Vorentwurf des schweizerischen Straf- 
gesetzbuchs von 1908 und ein besonderer russischer 
Entwurf von 1905. Ein Mischsystem hat das 
niederländische Gesetz von 1901 für Jugendliche 
unter 18 Jahren geschaffen. In Belgien und 
Frankreich gilt das Urteil als beseitigt, wenn die 
Probezeit bestanden wird. Die neueren Gesetz- 
entwürfe schließen sich dagegen meist dem nor- 
wegischen Gesetz darin an, daß nach bestandener 
Probezeit nur die Strafe als verbüßt erachtet wird. 
Ausgiebige Erfahrungen sind mit der bedingten 
Verurteilung insbesondere in Belgien gemacht 
worden, wie die alljährlich den Kammern über 
die Ausführung des Gesetzes erstatteten Rechen- 
schaftsberichte erkennen lassen. Das belgische Gesetz 
bestimmt, daß die Gerichte bei einer erstmaligen 
Verurteilung bis zu 6 Monaten Gefängnis den 
Aufschub der Vollstreckung des Strafurteils für 
einen Zeitraum von nicht über 5 Jahren anordnen 
können. Die Verurteilung wird, wie erwähnt, 
als nicht ergangen angesehen, wenn der Verur- 
teilte sich während dieses Zeitraums keine neue 
Verurteilung wegen eines Verbrechens oder Ver- 
gehens zuzieht. Im entgegengesetzten Fall werden 
die Strafen, für welche der Aufschub bewilligt 
worden ist, und diejenigen, welche den Gegen- 
stand der neuen Urteilsfällung bilden, zusammen- 
gerechnet. Der Prozentsatz der tatsächlichen An- 
wendung der bedingten Verurteilung war in Bel- 
gien in andauernder Steigerung begriffen. Er be-
	        
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