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Teil auf die Befriedigung von Luxuswünschen
abzielenden Zivilisation. Die großen Vorteile,
welche daraus hervorgehen, daß Länder und Völker
durch die technischen Fortschritte einander näher
gebracht werden, ist anzuerkennen; nicht zu über-
sehen aber ist der Umstand, daß dieselben Erfin-
dungen und Leistungen der Technik auch dem
Kriegsapparate dienen. — Betrachtet man die Ab-
rüstungsfrage von der praktischen Seite, so er-
scheint sie noch verwickelter. Es ist zu unterscheiden,
ob man die Absicht hat, mit reduzierten
Heeren Krieg zu führen, oder ob man die Armeen
nur während des Friedens reduziert wissen
will. Im ersteren Fall müßte die Reduktion nach
Verhältniszahlen durchgeführt werden, ein schein-
bar einfacher Vorgang, welcher jedoch auf unüber-
windliche Hindernisse stoßen würde, weil die ex-
ponierte Lage der Staaten, ihre natürlichen oder
künstlichen Grenzen, die Befestigungen und ander-
weitigen Vorteile in das Gewicht fallen müßten.
Im letzteren Fall wäre zu erwägen, daß die meisten
Wehrmächte Kaderheere haben, aufgebaut auf ein
stark entwickeltes Reservesystem. Um die in das-
selbe eingegliederte Mannschaft für den Krieg zu
schulen, kann man die Stämme unter ein ziemlich
sest begrenztes Maß gar nicht heruntersinken
lassen, da sonst der Ausbildung sich beträchtliche
Schwierigkeiten entgegenstellen. Auch ist diese Aus-
bildung in den verschiedenen Staaten und Ge-
bietsteilen eine höchst verschiedene, je nach der
Veranlagung und dem Bildungsgrad einer Be-
völkerung, dem Klima, der geographischen Lage
eines Staats als Binnen= oder Seestaat. Aber
die Abrüstung erscheint nicht bloß als eine Illusion,
sondern hätte auch, wäre sie zu bewerkstelligen,
unverkennbare Nachteile im Gefolge; vor allem
die Verlängerung der Kriege. Denn Armeen,
welche sofort mit der ganzen Kraft des Landes aus-
gerüstet werden und sich alle Vorteile der Kriegs-
kunst zu eigen gemacht haben, werden eine Ent-
scheidung weit schneller herbeiführen als kleine,
mangelhaft ausgebildete Heere, die erst nach und
nach weitere Kräfte an sich ziehen. Besser große
Herre und kurze Kriege, als kleine Heere und lange
riege. Die tiefen Schädigungen der National-
wohlfahrt, die Zerrüttung der Friedensordnung,
der Rechtspflege, der Volkswirtschaft, der sani-
tären Verhältnisse sind denn auch mit wenigen
Ausnahmen die Folge langwieriger, mit kleinen
und wenig kriegstüchtigen Armeen geführter
Feldzüge gewesen. Erwägt man noch, daß das
Heerwesen eine erziehliche Aufgabe hat: die
Angewöhnung des Sinnes für Ordnung und
Pünktlichkeit, des Gehorsams und der Pflicht-
treue, der Achtung vor dem Gesetz, der Selbst-
zucht und Selbstbeherrschung, so werden die Er-
haltungskosten stehender Heere durch moralische
Vorteile aufgewogen. — Gelänge es aber einer
internationalen Konferenz, die Abrüstung durch-
zuführen, so würde hierin eher eine Vermehrung
der Kriegsursachen gelegen sein als eine Vermin-
Abrüstung.
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derung, denn jede auch nur scheinbare Außeracht-
lassung der getroffenen Vereinbarung würde zu
neuen Beschwerden, Reibungen und Feindselig-
keiten Anlaß bieten. — Hiermit sind die für und
gegen die Abrüstung geltend gemachten Gründe in
der Hauptsache angedeutet. — Eine vorurteilsfreie
Würdigung derselben wird zu dem Schluß ge-
langen, daß die Abrüstung nicht das erste, sondern
das letzte Glied in der Pere der Sozialprobleme
bilden kann, welche in unsern Tagen so viel zu
denken geben. UÜberblickt man die Ereignisse der
jüngsten Zeit, so muß man sagen, daß die Fried-
fertigungsidee insofern an Vertiefung gewonnen
hat, als jeder Staat die Verantwortlichkeit emp-
findet, welche mit der voreiligen Anfachung eines
großen Krieges verbunden ist. Die Tendenz der
großen Wehrmächte ist unverkennbar darauf ge-
richtet, die Interessengegensätze, welche die Zivili-
sation eher verschärft denn abgeschwächt hat, nicht
vor Erschöpfung aller diplomatischen Mittel durch
den Krieg auszutragen.
4. Die Abrüstung auf den Haager
Friedenskonferenzen. Neue Anregung
erhielt die Friedenspolitik und die Idee des
Rüstungsstillstandes durch die Friedenskund-
gebung Kaiser Nikolaus' II. vom 12./24. Aug.
1898. Die leitende Idee ist klar und bestimmt
folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Im
Lauf der letzten zwanzig Jahre haben sich die
Wünsche nach einem allgemeinen Frieden im
Bewußtsein der zivilisierten Völker außerordent-
lich befestigt. Die Erhaltung des Friedens wurde
als der Zweck der internationalen Politik be-
zeichnet; in ihrem Namen haben die großen
Staaten untereinander mächtige Allianzen ge-
schlossen; um den Frieden wirksamer sicherstellen
zu können, haben sie in bisher ungeahnter Aus-
dehnung ihre militärischen Streitkräfte entwickelt,
und sie setzen diese Tätigkeit noch immer fort, ohne
vor einem Opfer zurückzuscheuen. Indessen ver-
mochte man trotz aller dieser Opfer noch nicht zu
den wohltätigen Ergebnissen der ersehnten Pazi-
fikation zu gelangen. Die in aufsteigender Rich-
tung sich bewegenden finanziellen Lasten treffen
die öffentliche Wohlfahrt an ihrer Wurzel sowie
die intellektuellen und physischen Kräfte der Völker.
Arbeit und Kapital sind zum überwiegenden Teil
ihrer natürlichen Bestimmung entfremdet und
werden in inproduktiver Weise aufgezehrt. Hun-
derte von Millionen werden zur Anschaffung von
schrecklichen Zerstörungswerkzeugen verwendet,
welche, heute als das letzte Wort der Wissenschaft
betrachtet, morgen infolge irgend einer neuen Ent-
deckung auf diesem Gebiet all ihren Wert ver-
lieren. Nationale Kultur, wirtschaftlicher Fort-
schritt, Erzeugung des Wohlstands erscheinen ge-
lähmt oder in ihrer Entwicklung behindert..
Der bewaffnete Friede unserer Zeit wird auf diese
Weise zu einer erdrückenden Last, welche die Völker
immer schwerer zu ertragen vermögen. Es ist da-
her augenscheinlich, daß, wenn diese Lage länger