Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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trug im Jahr 1890 nur 9,0, dagegen im Jahr 
1894 27,5, hatte sich sonach im Lauf von 4 Jah- 
ren mehr als verdreifacht. In den Jahren 1901 
und 1902 trat infolge einer Justizministerialver- 
fügung vom 12. Aug. 1901 eine rückläufige Be- 
wegung ein; neuerdings wird aber von der be- 
dingten Verurteilung wieder sehr ausgiebig Ge- 
brauch gemacht. 1903 z. B. wurden in Belgien 
von den tribunaux correctionnels 5579 be- 
dingte Verurteilungen zu Gefängnis= und 22 599 
bedingte Verurteilungen zu Geldstrafe ausgespro- 
chen; von 100 überhaupt zu Gefängnis Verurteil- 
ten wurden 23,16, von 100 überhaupt zu Geld- 
strafe Verurteilten 51,4 bedingt verurteilt. 
Im Deutschen Reich hat es nicht an An- 
regungen zur Einführung der bedingten Ver- 
urteilung gefehlt. Im Jahr 1891 sprach sich der 
21. Deutsche Juristentag in diesem Sinn aus. 
Von der Kommission des deutschen Reichstags zur 
Beratung der Strafprozeßnovelle wurde eine Reso- 
lution zugunsten der Einführung angenommen 
und sowohl im preußischen Abgeordnetenhaus 
(13. Febr. 1895) wie im deutschen Reichstag 
(21. März 1895) von verschiedenen Seiten emp- 
fohlen. Von den Präsidenten der Oberlandes- 
gerichte und den Oberstaatsanwälten in Preußen 
waren dagegen im Jahr 1890 ablehnende gut- 
achtliche Außerungen an den Justizminister erstattet 
worden. Dieser erklärte zwar in der vorgedachten 
Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses dem 
Institut der bedingten Verurteilung nicht „grund- 
sätzlich ablehnend“ gegenüberzustehen, formulierte 
aber mancherlei Einwendungen und hielt die in 
andern Ländern gemachten Erfahrungen nicht für 
ausreichend. Im Reichstag erklärte der Staats- 
sekretär des Reichsjustizamts, daß er die moralische, 
politische und finanzielle Bedeutung des Gedankens 
der bedingten Verurteilung anerkenne; die Reichs- 
justizverwaltung stehe aber dem ganzen Problem 
noch abwartend gegenüber. Unter dem 15. Jan. 
1896 wurde dann dem deutschen Reichstag eine 
im Reichsjustizamt ausgearbeitete Denkschrift über 
die mit der bedingten Verurteilung in den andern 
Ländern gemachten Erfahrungen unterbreitet („Zu- 
sammenstellung ausländischer Gesetze betr. die be- 
dingte Verurteilung und amtlicher Mitteilungen 
über die Anwendung dieser Gesetze“, Nr 90 der 
Drucksachen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, 
IV. Session 1895/96). Dieselbe fügte zu der 
belgischen Statistik der bedingten Verurteilungen 
für die Jahre 1888/95 „Bemerkungen“ hinzu, 
welche mittelbar durch ein Memorandum des bel- 
gischen Justizministeriums von 1898 beleuchtet 
worden sind. Dieses Memorandum erklärte die 
Erfolge des belgischen Gesetzes nach allen Rich- 
tungen hin für überaus günstige. 
Auf halbem Weg sind die meisten deut- 
schen Bundesstaaten vor einigen Jahren der auf 
Einführung der bedingten Verurteilung in das 
deutsche Strafrechtssystem abzielenden Bewegung 
entgegenkommen, indem der Gedanke derselben 
Begnadigung, bedingte. 
  
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in der Weise zur Ausführung gelangte, daß die 
Landesjustizuerwaltungen im Verordnungsweg 
eine bedingte Strafaussetzung mit Aussicht auf 
Strafnachlaß im Gnadenweg gewähren. So die 
Justizministerialverfügungen für Sachsen vom 
25. März 1895, für Preußen vom 23. Okt. 1895, 
für Bayern vom 15. Jan. 1896. Da die Begna- 
digung Sache der einzelnen Bundesfürsten ist, ist 
die Einrichtung in den verschiedenen deutschen 
Bundesstaaten verschieden. Mecklenburg-Strelitz 
und die beiden Reuß haben sie überhaupt noch 
nicht. Die bedingte Begnadigung im Deutschen 
Reich beschränkt sich im Gegensatz zu der bedingten 
Verurteilung nach den meisten ausländischen Ge- 
setzen auf Freiheitsstrafen und wird weit über- 
wiegend nur Jugendlichen zuteil. Für die Frage 
der Bewährung innerhalb der Probezeit kommt es 
nicht wie bei der bedingten Verurteilung einfach 
darauf an, ob der Verurteilte eine neue Verur- 
teilung erlitten hat oder nicht, sondern sein ge- 
samtes Verhalten wird in Betracht gezogen. Die 
Vermeidung einer weiteren Strafe gibt daher noch 
kein Anrecht auf Begnadigung, anderseits kann 
auch trotz neuer Strafe, z. B. bei einer geringen 
Übertretung, die gute Führung bejaht werden. 
Die Länge der Probezeit wird jeweils nach den 
Umständen des einzelnen Falles festgesetzt. In 
Baden werden nichtjugendliche Verurteilte unter 
keinen Umständen berücksichtigt; die übrigen Bun- 
desstaaten lassen ausnahmsweise auch Personen 
über 18 Jahre die bedingte Begnadigung zuteil 
werden. Baden, Schaumburg-Lippe und Lübeck 
beschränken sich auf Personen, die noch keine Frei- 
heitsstrafe verbüßt haben, anderwärts werden auch 
hiervon Ausnahmen gestattet. Das Höchstmaß 
der Strafe, über das hinaus in der Regel von der 
bedingten Begnadigung kein Gebrauch gemacht 
wird, beträgt in Bayern, Württemberg, Olden- 
burg, Lippe drei Monate, in Preußen und den 
meisten übrigen deutschen Bundesstaaten sechs 
Monate. In Preußen, Oldenburg, Anhalt und 
Lübeck ist die Probezeit regelmäßig auf zwei Jahre, 
oder wenn andernfalls Verjährung eintreten würde, 
auf ein Jahr oder weniger festzusetzen; in Bayern 
soll sie nicht mehr als fünf, in der Regel aber 
nicht weniger als ein Jahr betragen. Mecklen- 
burg-Schwerin hat als Höchstmaß drei Jahre, für 
die Fälle, in denen die Strafvollstreckung binnen 
zwei Jahren verjährt, anderthalb Jahre. In den 
übrigen Bundesstaaten sind besondere Vorschriften 
hierüber nicht ergangen. Die Frage, welche Be- 
hörde zu prüfen hat, ob die Aussetzung des Straf- 
vollzugs beantragt werden soll, ist gleichfalls ver- 
schieden geregelt. In den meisten Bundesstaaten 
ist die Prüfung den Strafvollstreckungs- 
behörden überwiesen, also den Amtsgerichten 
bzw. den Staatsanwaltschaften. 
Über die Ergebnisse dieser Einrichtung — der 
sog. bedingten Begnadigung — wurde 
dem Reichstag zuerst im Jahr 1900 eine Denk- 
schrift vorgelegt. Danach war bis zum 31. Dez.
	        
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