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der Knochen beansprucht 10 bis 15 Jahre. Doch
wird sie nicht selten durch den Prozeß der Petre-
faktion (Eindringen von Kiesel- und Fluorsäure
bzw. von Tonerde in die Substanz des Knochens)
verhindert. Bekleidung der Leiche, Art des Sarges
und besonders die Beschaffenheit des Bodens sind
hier von großem Einfluß. Fest anliegende, enge
Kleidungsstücke hemmen, besonders in nassem Zu-
stand, die Auflösung der Leiche. Es scheint, daß
Särge, wenigstens solche aus trockenem, nicht zu
festem Holz, die gut verschlossen sind, die geruch-
lose und schnelle Verwesung der Leiche eher fördern
als hemmen (Reinhard, Beobachtungen über die
Zersetzungsvorgänge in den Gräbern und Grüften
der Friedhöfe. Aus dem 11. Jahresbericht des
Landes-Medizinalkollegiums über das Medizinal-
wesen in Sachsen auf das Jahr 1879, Leipzig
1881). Grobkörniger Kiesboden, dann auch Kalk-
boden und gemischter Lehmsandboden, besondersder
erstere, beschleunigen die naturgemäße Zersetzung,
während nasser, sehr humusreicher (von organischen
Substanzen übersättigter) Boden, besonders nasser
Lehmboden, die Zersetzung verlangsamt und zu
Leichenwachsbildung (Adipocire) Veranlassung
gibt. In nassen Gräbern (in feuchtem Ton), oder
wenn der Boden bei kurzem Begräbnisturnus und
bei Massengräbern (auf alten Kirchhöfen, z. B.
Cimetière des Innocents zu Paris, St Peters-
Friedhof in Graz) mit organischen Substanzen
überladen ist, werden kleinere oder größere Partien
der Leiche (selten die ganze) in eine weiße oder
grauweiße, leicht zerbröckelnde Masse umgewandelt,
die sich kneten läßt, fettig anfühlt, durchschnitten
Fettglanz zeigt, moderig riecht und in der Hitze
schmilzt. Diese Masse ist oft so fest, daß sie beim
Anstoßen tönt. Man nennt dieselbe Fettwachs,
Leichenwachs, Adipocire. Sie bildet sich nach einer
einleitenden Fäulnisperiode von 1 bis 2 Monaten
durch Umbildung des Unterhautfettgewebes von
außen nach innen. Diese 3 bis 4 Monate dauernde
Periode der Verseifung der Fettsubstanzen läuft
schließlich in die Periode der Verfettung der Eiweiß-
substanzen (der Muskeln) aus, welche ebenfalls von
der Oberfläche nach der Tiefe zu fortschreitet
(Kratter, Studien über Adipocire, in der Zeit-
schrift für Biologie XVI, 1880).
Im Gegensatz hierzu tritt in sehr trockener Luft,
besonders in Grüften und Leichenkammern (mit
Vorliebe an ganz bestimmten Ortlichkeiten und
unter sehr wahrscheinlicher Mitwirkung besonderer,
nicht genau bekannter Faktoren), zuweilen ein voll-
ständiges Verschrumpfen und Austrocknen der
Weichteile auf, die Mumifikation (Dünkirchen,
Toulouse, Palermo, Bremen, Kreuzberg bei
Bonn usw.).
Es ist ein Mythus, daß die in Gräbern oder
Grüften verwesenden Leichen gewöhnlich von
Würmern verzehrt würden. Bei 150 von sächsi-
schen Bezirksärzten vorgenommenen Exhumationen
hat man bei ungefähr einem Drittel der Leichen
tierische Organismen, vorwiegend Larven mehrerer
Begräbniswesen.
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Fliegenarten, dann auch Käfer und Tausendfüßler
gefunden. Es scheint, daß gewisse Fliegenarten,
wenn sie einmal in die Leiche gelangt sind (was
wahrscheinlich nur vor der Beerdigung geschieht),
Generationen hindurch als Maden an den Weich-
teilen zehren, sich verpuppen, auskriechen und sich
fortpflanzen können, bis der Nahrungsvorrat ver-
braucht ist. Bei im Freien verwesenden Leichen
spielen indessen Würmer und Insekten (Ameisen,
Tausenfüßler u. a.) eine hervorragende Rolle,
indem sie innerhalb weniger Monate die Leiche zu
skelettieren vermögen.
Die Art und Weise, den Zerfallprozeß der
Leiche in seine Bahnen zu leiten bzw. zu modi-
fizieren, ist bei den verschiedenen Völkern, ab-
gesehen von Kultuseigentümlichkeiten, durch klima-
tische Faktoren stark beeinflußt. In arktischen Re-
gionen läßt die Kälte, sofern sie unter dem Null-
punkt bleibt, einen Fäulnisprozeß nicht aufkommen
und gestattet, die Leiche an der Oberfläche der
hartgefrorenen Erde in ein aus Steinen er-
richtetes Gewölbe zu legen, wo sie lange Zeit un-
verändert bleibt und bei genügendem Luftzutritt
mumifiziert wird. In äquatorialen, von heißen,
trockenen Winden durchzogenen Gegenden legen
die Eingebornen die Leichen in hohe, freistehende
Gerüste, wo die durchstreichende Luft ebenfalls
eine Mumifikation herbeiführt. Wo dagegen
feuchtwarmes Klima den Zerfall der Leichen ra-
pid einleitet und so den Organismus schon
wenige Stunden, nachdem das Leben ihn ver-
lassen hat, für die Umgebung gefährlich macht,
ist vollständige rasche Vernichtung der Leichen an-
gezeigt, und so erklären sich ursprünglich Leichen-
bestattungsarten, wie die der Inder, welche die
Leichen auf primitiven Holzstößen verbrennen oder
in den „Türmen des Schweigens“ durch Aas-
geier in kürzester Zeit skelettieren lassen. Mit
solchen aus der Notwendigkeit resultierenden Sit-
ten haben sich jeweils rituelle Gebräuche eng ver-
knüpft und sich ihnen angepaßt.
Für die gemäßigte Zone gelten die oben an-
geführten klimatischen Bedingungen nicht; hier
ist die Leichenbeisetzung in der Erde, wie sie
vielleicht allerorts die älteste Bestattungsart ist
(keltische Tumuli, Schliemannsche Ausgrabungen
in Troja, althergebrachter Brauch der Beerdigung
bei den Chinesen usw.), die älteste und natürliche
Art der Bestattung. Aufbewahrung der (dann
gewöhnlich einbalsamierten) Leiche in Totenkam-
mern, Felsgräbern oder in geschlossenen Stein-
särgen ist ebenfalls uralte Sitte, um nur an
1 Mos. 23 und die ägyptischen Königsgräber zu
erinnern. Die rasche Beseitigung der Leichen
durch Feuer scheint im Altertum vorzüglich durch
die Pietät gegen die auf dem Schlachtfeld Ge-
fallenen sich eingebürgert zu haben, welche man
so vor Feinden und Ranbtieren schützen wollte
(Plinius I, 7, 54). Später gewann die Sitte
der Leichenverbrennung auch im bürgerlichen Leben
bei den Griechen, Römern und Slawen, über-
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