Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

677 
der Knochen beansprucht 10 bis 15 Jahre. Doch 
wird sie nicht selten durch den Prozeß der Petre- 
faktion (Eindringen von Kiesel- und Fluorsäure 
bzw. von Tonerde in die Substanz des Knochens) 
verhindert. Bekleidung der Leiche, Art des Sarges 
und besonders die Beschaffenheit des Bodens sind 
hier von großem Einfluß. Fest anliegende, enge 
Kleidungsstücke hemmen, besonders in nassem Zu- 
stand, die Auflösung der Leiche. Es scheint, daß 
Särge, wenigstens solche aus trockenem, nicht zu 
festem Holz, die gut verschlossen sind, die geruch- 
lose und schnelle Verwesung der Leiche eher fördern 
als hemmen (Reinhard, Beobachtungen über die 
Zersetzungsvorgänge in den Gräbern und Grüften 
der Friedhöfe. Aus dem 11. Jahresbericht des 
Landes-Medizinalkollegiums über das Medizinal- 
wesen in Sachsen auf das Jahr 1879, Leipzig 
1881). Grobkörniger Kiesboden, dann auch Kalk- 
boden und gemischter Lehmsandboden, besondersder 
erstere, beschleunigen die naturgemäße Zersetzung, 
während nasser, sehr humusreicher (von organischen 
Substanzen übersättigter) Boden, besonders nasser 
Lehmboden, die Zersetzung verlangsamt und zu 
Leichenwachsbildung (Adipocire) Veranlassung 
gibt. In nassen Gräbern (in feuchtem Ton), oder 
wenn der Boden bei kurzem Begräbnisturnus und 
bei Massengräbern (auf alten Kirchhöfen, z. B. 
Cimetière des Innocents zu Paris, St Peters- 
Friedhof in Graz) mit organischen Substanzen 
überladen ist, werden kleinere oder größere Partien 
der Leiche (selten die ganze) in eine weiße oder 
grauweiße, leicht zerbröckelnde Masse umgewandelt, 
die sich kneten läßt, fettig anfühlt, durchschnitten 
Fettglanz zeigt, moderig riecht und in der Hitze 
schmilzt. Diese Masse ist oft so fest, daß sie beim 
Anstoßen tönt. Man nennt dieselbe Fettwachs, 
Leichenwachs, Adipocire. Sie bildet sich nach einer 
einleitenden Fäulnisperiode von 1 bis 2 Monaten 
durch Umbildung des Unterhautfettgewebes von 
außen nach innen. Diese 3 bis 4 Monate dauernde 
Periode der Verseifung der Fettsubstanzen läuft 
schließlich in die Periode der Verfettung der Eiweiß- 
substanzen (der Muskeln) aus, welche ebenfalls von 
der Oberfläche nach der Tiefe zu fortschreitet 
(Kratter, Studien über Adipocire, in der Zeit- 
schrift für Biologie XVI, 1880). 
Im Gegensatz hierzu tritt in sehr trockener Luft, 
besonders in Grüften und Leichenkammern (mit 
Vorliebe an ganz bestimmten Ortlichkeiten und 
unter sehr wahrscheinlicher Mitwirkung besonderer, 
nicht genau bekannter Faktoren), zuweilen ein voll- 
ständiges Verschrumpfen und Austrocknen der 
Weichteile auf, die Mumifikation (Dünkirchen, 
Toulouse, Palermo, Bremen, Kreuzberg bei 
Bonn usw.). 
Es ist ein Mythus, daß die in Gräbern oder 
Grüften verwesenden Leichen gewöhnlich von 
Würmern verzehrt würden. Bei 150 von sächsi- 
schen Bezirksärzten vorgenommenen Exhumationen 
hat man bei ungefähr einem Drittel der Leichen 
tierische Organismen, vorwiegend Larven mehrerer 
Begräbniswesen. 
  
678 
Fliegenarten, dann auch Käfer und Tausendfüßler 
gefunden. Es scheint, daß gewisse Fliegenarten, 
wenn sie einmal in die Leiche gelangt sind (was 
wahrscheinlich nur vor der Beerdigung geschieht), 
Generationen hindurch als Maden an den Weich- 
teilen zehren, sich verpuppen, auskriechen und sich 
fortpflanzen können, bis der Nahrungsvorrat ver- 
braucht ist. Bei im Freien verwesenden Leichen 
spielen indessen Würmer und Insekten (Ameisen, 
Tausenfüßler u. a.) eine hervorragende Rolle, 
indem sie innerhalb weniger Monate die Leiche zu 
skelettieren vermögen. 
Die Art und Weise, den Zerfallprozeß der 
Leiche in seine Bahnen zu leiten bzw. zu modi- 
fizieren, ist bei den verschiedenen Völkern, ab- 
gesehen von Kultuseigentümlichkeiten, durch klima- 
tische Faktoren stark beeinflußt. In arktischen Re- 
gionen läßt die Kälte, sofern sie unter dem Null- 
punkt bleibt, einen Fäulnisprozeß nicht aufkommen 
und gestattet, die Leiche an der Oberfläche der 
hartgefrorenen Erde in ein aus Steinen er- 
richtetes Gewölbe zu legen, wo sie lange Zeit un- 
verändert bleibt und bei genügendem Luftzutritt 
mumifiziert wird. In äquatorialen, von heißen, 
trockenen Winden durchzogenen Gegenden legen 
die Eingebornen die Leichen in hohe, freistehende 
Gerüste, wo die durchstreichende Luft ebenfalls 
eine Mumifikation herbeiführt. Wo dagegen 
feuchtwarmes Klima den Zerfall der Leichen ra- 
pid einleitet und so den Organismus schon 
wenige Stunden, nachdem das Leben ihn ver- 
lassen hat, für die Umgebung gefährlich macht, 
ist vollständige rasche Vernichtung der Leichen an- 
gezeigt, und so erklären sich ursprünglich Leichen- 
bestattungsarten, wie die der Inder, welche die 
Leichen auf primitiven Holzstößen verbrennen oder 
in den „Türmen des Schweigens“ durch Aas- 
geier in kürzester Zeit skelettieren lassen. Mit 
solchen aus der Notwendigkeit resultierenden Sit- 
ten haben sich jeweils rituelle Gebräuche eng ver- 
knüpft und sich ihnen angepaßt. 
Für die gemäßigte Zone gelten die oben an- 
geführten klimatischen Bedingungen nicht; hier 
ist die Leichenbeisetzung in der Erde, wie sie 
vielleicht allerorts die älteste Bestattungsart ist 
(keltische Tumuli, Schliemannsche Ausgrabungen 
in Troja, althergebrachter Brauch der Beerdigung 
bei den Chinesen usw.), die älteste und natürliche 
Art der Bestattung. Aufbewahrung der (dann 
gewöhnlich einbalsamierten) Leiche in Totenkam- 
mern, Felsgräbern oder in geschlossenen Stein- 
särgen ist ebenfalls uralte Sitte, um nur an 
1 Mos. 23 und die ägyptischen Königsgräber zu 
erinnern. Die rasche Beseitigung der Leichen 
durch Feuer scheint im Altertum vorzüglich durch 
die Pietät gegen die auf dem Schlachtfeld Ge- 
fallenen sich eingebürgert zu haben, welche man 
so vor Feinden und Ranbtieren schützen wollte 
(Plinius I, 7, 54). Später gewann die Sitte 
der Leichenverbrennung auch im bürgerlichen Leben 
bei den Griechen, Römern und Slawen, über- 
22
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.