687
1890 zugrunde liegt. — Da nach der Beobach-
tung der sächsischen Bezirksärzte die Leichen in
Grüften mindestens ebenso schnell als in durch-
lässigem Boden verwesen und die seltenen Fälle
von Mumifikation in Kloster= und Kirchenkellern
keine hygienischen Bedenken veranlassen, so sind
Grüfte im allgemeinen als zulässig zu erachten;
jedoch ist das Betreten derselben mit denselben
Sicherheitsmaßregeln zu umgeben, wie das Ein-
steigen in Gruben, alte Brunnenschächte usw. Eine
besondere Aufmerksamkeit ist endlich der Bepflan-
zung der Friedhöse und bei größeren den unum-
gänglich notwendigen Gebäuden (Kapelle, Leichen-
haus, Sektionszimmer, Totengräber= bzw. Ver-
walterwohnung) sowie der Verwaltung selbst
zu schenken. Betreffs der letzteren handelt es sich
um ordnungsmäßiges Buchen der Leichen und
Grabstellen (Situationsplan mit Bezeichnung der
Nummern und Reihen der Gräber), um eine Be-
gräbnisordnung, Festsetzung des Verfahrens bei
Wiedereröffnung von Gräbern usw. Nach großen
Epidemien und Schlachten ist dem Begräbnis-
wesen, weil es sich um Massengräber in oft
ungeeigneter Bodenart handelt, von seiten der
Sanitätsbehörden eine ganz besondere Aufmerk-
samkeit zu schenken. Hier wird speziell das Des-
infizieren der Leichen und Gräber in Betracht
kommen. — Der Staat hat das Recht und die
Verpflichtung, die öffentliche Ordnung bezüglich
des Begräbniswesens dadurch aufrechtzuerhalten,
daß er jede mißbräuchliche Benutzung der Leichen
mit schweren Strafen ahndet und die Wahrung der
Pietät gegen die Toten überwacht, so daß er keine
unwürdige, lächerliche oder obszöne Bestattungs-
weise duldet. Ebenso haben seine berufenen Or-
gane bei Leichenzügen die öffentliche Ordnung
aufrechtzuerhalten, um jede unpassende Störung
zu verhindern und gegen etwaige Mißbräuche,
welche mit einem Leichenbegängnis zum Zweck
politischer Demonstrationen, Aufwieglungen u. dgl.
getrieben werden können, einzuschreiten.
II. Es ist hier nicht der Ort, die bei den ver-
schiedensten Völkern und Kulten üblichen Be-
stattungszeremonien zu besprechen, sondern nur
auf die in der christlichen Kirche durch uraltes
Gewohnheitsrecht auch staatsrechtlich begründeten,
mehr oder weniger feierlichen Formen der Vor-
nahme von Beerdigungen hinzuweisen. Das Recht
des Staates auf das Beerdigungswesen, welches
unter andern im preußischen Landrecht TI II,
Tit. 2, 8§ 184 186 188 189 und 764, sowie
in dem kaiserl. Dekret vom 23. Prairial XII (1804)
Art. 1/6 Ausdruck gefunden hat, erleidet eine
Einschränkung durch die Selbständigkeit, welche der
Kirche in der Ausübung des Zeremoniells bei Be-
stattung der Toten zukommt, sowie in dem faktischen
Besitzstand der Friedhöfe seitens vieler Kirchen-
gemeinden, worüber das Landrecht TI II, 8§ 183
bestimmt: „Kirchhöfe oder Gottesäcker und Be-
gräbnisplätze, welche zu den einzelnen Kirchen ge-
hören, sind der Regel nach Eigentum der Kirchen-
Begräbniswesen.
688
gesellschaften.“ — Die Christen der ersten Jahr-
hunderte, besonders die römischen, pflegten ihre
Toten mit Vorliebe möglichst nahe der Stätte,
wo die Geheimnisse des Glaubens gefeiert wurden
(in den Cömeterien der Katakomben), beizusetzen.
um den engen Anschluß der Glieder an das Haupt,
Christus, zu bekunden. Daraus ging die Sitte
hervor, die Leichen innerhalb der Mauern der
Kirchen und der äußeren Einfriedigungen der
letzteren, der „Kirchhöfe“, „Friedhöfe“, beizusetzen.
Es verstand sich von selbst, daß diese Bestattungen
mit aller dem heiligen Ort schuldigen Ehrfurcht
vorgenommen wurden und daß sich ein gewisses
Rituale für solche Gelegenheiten ausbildete,
welches in Einsegnung der Leiche, Gebeten, Ein-
weihung der Begräbnisstätte und dem in Ver-
bindung mit der Beisetzung erfolgenden Meßopfer
besteht. Je weiter später dem Zwang der Not
folgend die Gräberstätten von dem ursprünglichen
heiligen Ort der Kirche selbst entfernt werden
mußten, um so sorgfältiger wurde ihr ehrwürdiger
Charakter gewahrt durch Einweihung des ganzen
Gottesackers, sowie durch besondere Einweihung
eines jeden einzelnen Grabes oder Gewölbes vor
der Benutzung. Der der leiblichen Auflösung
dienende Akt der Beerdigung ist also dem Christen
zugleich ein religiöser, von Christus selbst geheiligter
und von seiner Kirche durch die dabei gespendeten
Sakramentalien ausgezeichneter Akt, an welchem
Anteil zu nehmen der Katholik sich zur Ehre und
zum Verdienst rechnet. Das kanonische Recht
definiert die Beerdigung als Beisetzung einer Leiche
in ritueller Form an einem benedizierten Ort.
Die Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses ist
eine schwere Strafe für offenkundige, vor dem Tod
nicht mehr gesühnte Verachtung der Kirchengebote,
wie sie frivole Glaubensspötter, nicht geisteskranke
Selbstmörder u. a. bewiesen haben. Die Bei-
setzung nicht geisteskranker Selbstmörder außerhalb
der Reihe auf einem Abspliß des Kirchhofs ist
eine althergebrachte Gewohnheit und erfüllt an
und für sich nicht den Tatbestand eines „unehr-
lichen Begräbnisses“" im Sinn des Staates, wes-
halb im Einzelfall der Staat, ohne dessen Er-
lenntnis niemand das ehrliche Begräbnis auf
dem öffentlichen Kirchhof versagt werden kann,
obige Anordnung gestattet (Urteil des kgl. Ober-
verwaltungsgerichtes vom 14. Juni 1907).
Aus der historischen Entwicklung des kirchlichen
Begräbniswesens geht mit Sicherheit hervor, daß
die Kirchengemeinden oder Kirchenfabriken das
Eigentumsrecht ihrer Friedhöfe von alters her voll
besitzen. Dies schließt das allgemeine und sanitäts-
polizeiliche Aufsichtsrecht des Staates in keiner
Weise aus. Die Regierungen verschiedener In-
stanzen üben dasselbe fortlaufend durch Erlasse
und Verfügungen aus, zu denen mißbräuchliche
oder fehlerhafte Gewohnheiten einzelner Gegenden
Veranlassung geben. So untersagt die eine Be-
zirksregierung die nächtlichen Leichenwachen, die
andere verbietet den Hebammen, Leichenwaschungen