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andauert, sie unausweichlich zu jenem Kataklysma
führen müsse, das zu vermeiden man sich bemüht
und dessen Schrecken im vorhinein jedes mensch-
liche Empfinden schaudern machen. Diesen un-
aufhörlichen Rüstungen ein Ende setzen und die
Mittel zur Beseitigung jener Gefahren, von
welchen die ganze Welt bedroht erscheint, aus-
findig machen — das ist die höchste Pflicht, welche
heute allen Staaten obliegt.“ Diese Kundgebung
schloß mit der Einladung an sämtliche Staaten,
auf einer internationalen Konferenz sich mit diesem Ö
ernsten Problem zu beschäftigen. Um ein Sub-
strat für die Verhandlungen zu schaffen, unter-
breitete Graf Murawiew (30. Dez. 1898) namens
seines Souveräns ein in allgemeinen Zügen ge-
haltenes Programm für die Beratungen. Wenn
auch die erste Haager Friedenskonferenz (18. Mai
bis 29. Juli 1899) die definitive Entschei-
dung der Frage hinsichtlich der Innehaltung der
Rüstungen bis zur völligen Klarlegung dieser
Angelegenheit durch die einzelnen Regierungen
aufzuschieben für notwendig befunden hat, so war
die Einmütigkeit der Staaten, alle Kräfte zur
Erhaltung des Friedens und zur Beseitigung
der Kriege anzuspannen, ein günstiges Anzeichen
für den Verlauf der zweiten Haager Konferenz
(15. Juni bis 18. Okt. 1907). Auch diese,
bei welcher sich 44 Staaten (auf der ersten
Konferenz waren es 26) an dem gemeinsamen
Werke beteiligt hatten, ist in die Erörterung
der Abrüstungsfrage, richtiger gesagt, der Be-
schränkung der Rüstungen, meritorisch nicht ein-
getreten. Die von England in Aussicht gestellte
Abrüstungsaktion gedieh nur zu dem bescheidenen
Wunsch, daß man sich mit der Frage in Anbe-
tracht der Wichtigkeit des angestrebten Ziels be-
schäftigen möge. Wer nicht der Hoffnung zuneigt,
daß die nächsten Generationen von dem Kriegs-
übel befreit sein werden, wird der zweiten Haager
Konferenz manchen Erfolg danken. Über die wei-
teren Verhandlungen und Ergebnisse der beiden
Haager Konferenzen berichtet der Art. Friede,
ewiger.
Literatur. Der Idee der allgemeinen A. und
Heeresreduktion wird das Wort gesprochen von
J. Bentham, J. Kant (Zum ewigen Frieden. Nebst
Auszügen aus andern Kantschen Schriften hrsg. von
G. Vogt, 1867), dann von Adolf Fischhof (sehr
eingehend: Zur Reduktion der kontinentalen Heere
[Hft 1 u. 2, 1875), und: Bismarck und die A. ler-
schienen in der Neuen Freien Presse, Juni 1880.),
R. Freiherrn v. Walterskirchen (Die A.sfrage; ein
Vortrag, 1880); ferner von Mr. Heury Richard
(International Reduction of armaments: Vor-
trag, 1879 gehalten in Guildhall) u. Max Müller
(Schreiben an den Foreign Secretary der Londoner
internat. Schiedsgerichts= und Friedensgesellschaft,
Nov. 1892). Weitere Literaturangaben finden sich
bei F. v. Holtzendorff, Die Ideen d. ewigen Völker-
friedens (Virchow-Holtzendorffsche Sammlung wis-
sensch. Vorträge, Hft 403 u. 404). — Die polit.
u. militär. Gründe gegen A. u. Heeresreduktion
finden sich übersichtlich zusammengestellt bei v. Rei-
Absetzung.
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chenau, Ewiger Friede u. A. (Vortrag, 1878). —
Vgl. insbesondere noch: E. Jacquerez, Abolition du
systeme des armées permanentes (Par. 1884);
Euthys, Le désarmement progressif (ebd. 1881);
Lorimer, Le désarmement proportionnel (Revue
de droit international XVII1885|, Nr 1); Schlief,
Der Friede in Europa (1892); v. Bloch, Der zu-
künftige Krieg in seiner techn., volkswirtsch. u. polit.
Bedeutung (6 Bde, 1899); Der Krieg der Zukunft
(Auszug aus obigem Werk); Emil Steinbach, Zur
Friedensbewegung (1899); H. Dunant, Der Vor-
chlag S. M. des Kaisers Nikolaus II. (Deutsche
Revue, Febr.-Heft 1899); Alf. Paris, Das Frie-
densproblem (1899); C. Freiherr v. Stengel, Der
ewige Friede (gegen die Möglichkeit des Welt-
friedens, I1899); v. Siebold: Der ewige Krieg und
die Friedenskonferenz (1899); Henckel, Wider
Militarismus und Krieg (1899); Mc Cabe, Can
we disarm? (Lond. 1899); Alfr. H. Fried, Die
moderne Friedensbewegung. IV. Das A. sproblem
(1907). (Lentner.]
Absetzung. I. Wie jede irdische Gewalt, so
ist auch die Staatsgewalt dem Mißbrauch unter-
worfen. Nur zu oft begegnen wir in der Ge-
schichte Souveränen, welche die ihnen zum Wohl
ihres Volkes verliehene Gewalt zur Befriedigung
ihres Eigennutzes und zur ungerechten Bedrückung
ihrer Untertanen mißbrauchten. Das natürliche,
in jeder Menschenbrust wohnende Rechtsgefühl
sträubt sich gegen eine solche von einer Seite aus-
gehende Vergewaltigung, von der man am meisten
den Rechtsschutz zu erwarten berechtigt ist. Daher
haben sich von jeher die Völker, die unter dem
Druck einer solchen Gewaltherrschaft litten, nach
irgend einer Abhilfe umgeschaut, und weil diese
gewöhnlich anderswo nicht zu finden war, so kam
man von selbst auf die Frage, ob das gesamte
Volk nicht schließlich zur Selbsthilfe greifen und
den Fürsten absetzen, d. h. ihm gegen seinen Willen
tatsächlich und rechtlich die Staatsgewalt ent-
ziehen und sie einem andern übertragen dürfe. —
Ist diese Frage schon an und für sich zu jeder
Zeit schwierig, so ist sie heute besonders heikel
wegen der vielen gewaltsamen Umwälzungen, deren
Zeuge Europa seit einem Jahrhundert ist. Und
doch darf man nicht scheu an derselben vorbei-
gehen oder sie als ein Noli me tangere behan-
deln. Sie wird immer wieder, besonders in Zeiten
politischer Erregung, gestellt werden und erheischt
deshalb eine leidenschaftslose, sachliche Beant-
wortung. Doch sei hier gleich bemerkt, daß in
unsern modernen konstitutionellen Staaten die uns
beschäftigende Frage ihre praktische Bedeutung zum
guten Teil verloren hat. Denn da das Volk durch
dievon ihm gewählten Abgeordneten entscheidenden
Einfluß auf die Gesetzgebung und Verwaltung aus-
übt, kann es nicht mehr leicht vorkommen, daß sich
der Monarch oder die Regierung dauernd mit der
Mehrheit des Volkes in Widerspruch setze oder sich
gar einer offenbar ungerechten und gemeinschäd-
lichen Bedrückung derselben schuldig mache.
II. In bejahendem Sinn wird unsere Frage
beantwortet von allen Anhängern der absoluten