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Willensakten, wie z. B. anarchistischen Umsturz-
plänen, so lange ohnmächtig und wehrlos gegen-
über, als sie nicht durch die Tat in die sichtbar-
leibliche Erscheinung getreten und zu äußeren
Handlungen verdichtet sind, welche dem Strafgesetz
eine Handhabe zum Einschreiten im Interesse des
Staatswohls bieten. Für den Staat kann daher
die Maxime nur lauten: Jeder Staatsbürger ist
für sein seelisches Innenleben nur Gott und dem
eigenen Gewissen verantwortlich. Hieraus folgt
von selbst, daß auch der religiöse Glaube als
inneres Verhältnis zu Gott für die staatliche
Rechtsordnung schlechthin unfaßbar, unerzwingbar
und folglich frei sein muß. Vgl. preußisches Land-
recht (1794) Tl II, Tit. 11, § 1: „Die Begriffe
der Einwohner des Staates von Gott und gött-
lichen Dingen, der Glaube und der innere Gottes-
dienst können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen
sein.“ Bayr. Religionsedikt (1818) 8 2: „Er darf
in Gegenständen des Glaubens und Gewissens
keinem Zwang unterworfen werden.“ — Vg9l.
V. Cathrein, Moralphilosophie II (21904) 452 ff
ders., Die Aufgaben der Staatsgewalt und ihre
Grenzen (1882); J. E. Pruner, Kath. Moral-
theologie 1I (*1902) 347 f.
2. Anders verhält es sich mit der Kirche. Als
gottbestellte Hüterin der sittlichen Weltordnung
und als Verkünderin der geoffenbarten Heils-
wahrheiten hat sie von ihrem göttlichen Stifter die
erhabene Aufgabe erhalten, die ewigen Wahr-
heiten der unveränderlichen Glaubenshinterlage
unverkürzt zu bewahren, autoritativ zu predigen,
rechtmäßig zu entwickeln und eventuell durch An-
wendung ihrer Strafgewalt gegen Fälschung und
Verdunklung zu schützen. Da sie kraft ihrer Lehr-
und Schlüsselgewalt (forum internum sive
conscientiae) auch in das Gewissen einzu-
dringen vermag, so kann sie und nur sie die An-
nahme des allein wahren, von Christus vorge-
schriebenen Glaubens für jedermann, den sie mit
ihrer Glaubenspredigt erreicht, zur strengen Ge-
wissenspflicht machen. Insbesondere ihren eigenen
Kindern kann und mufß sie den inneren Glaubens-
akt autoritativ befehlen und selbst die geheimen
Irrgläubigen aus der Kirchengemeinschaft aus-
schließen (vgl. Pü IX. Definitio immaculatae
conceptionis d. 8. Dec. 1854, bei Denzinger,
Enchiridion ([Freib. 101908] Nr 1641). Ver-
mag zwar die Kirche ebensowenig wie der Staat
auf das Gewissen des Menschen durch physischen
Zwang einzuwirken, da der übernatürliche Glau-
bensakt eine freie Tat des Willens bleibt, so hat
sie doch dies vor dem Staat voraus, daß sie einen
ethischen Zwang ausübt, der mit schlecht-
hiniger Glaubensfreiheit unverträglich ist. So
wenig Christus den Menschen ihren religiösen
Glauben freigibt, ebensowenig darf dies seine
Stellvertreterin auf Erden tun. Weil dieser un-
Bekenntnisfreiheit.
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liche Anmaßung“ empfunden wird, so soll kurz
seine objektive Berechtigung dargetan werden.
a) Der Ausgangspunkt einer Verständigung
liegt in der Allherrschaft und Alleinberechtigung
der Wahrheit. Schon auf dem Gebiet der
Profanwissenschaften ist die Möglichkeit und
Grundbedingung jeder Forschung an die Existenz
und Erkennbarkeit der Wahrheit geknüpft. Auf-
gabe und Ziel aller Wissenschaften kann in letzter
Instanz nur im ehrlichen Suchen nach der Wahr-
heit bestehen, in deren Besitz sich der forschende Geist
erst glücklich fühlt. Sogar der Irrtum ist logisch
nur dann verständlich, wenn es eine unverrückbare
Norm der Wahrheit gibt, als deren Gegensatz er
sich breitmacht. Gäbe es nur Irrtümer und
keine irgendwie erreichbare Wahrheit, so wäre vor
allem die Logik und die Erkenntnistheorie aus der
Liste der Wissenschaften zu streichen; denn als
bloßer Registrator unzuverlässiger Gedanken müßte
sie von selbst zu einem Seitenzweig der Psycho-
logie herabsinken, die sich mit den Denkprozessen
lediglich im Sinn von psychischer Tätigkeit befaßt.
Wer in der Entwicklung der menschlichen Wissen-
schaften nur einen schönen Irrgarten von lauter
Fehlgängen und in der Summe aller Erkenntnisse
nur ein Museum gleißender Lügen erblickt, der
predigt den Tod jeder Wissenschaft und huldigt
jenem allgemeinen Skeptizismus, welcher im
Altertum von der sog. mittleren Akademie unter
Arkesilaos sowie vom Pyrrhonismus der nieder-
gehenden griechischen Philosophie gepflegt und für
die Skeptiker aller Jahrhunderte bis hinauf zum
geistreichen Pierre Bayle (gest. 1706) Muster und
Vorbild geblieben ist. Aber auch jener geisttötende
moderne Relativismus fällt in den gerügten
Skeptizismus zurück, welcher in dem Kenntnis-
schatz einer bestimmten Zeitepoche nur einen ver-
änderlichen Durchgangspunkt erblickt, der im
nächstfolgenden Menschenalter von seiner Nor-
mallinie beliebig abgelenkt und in die entgegen-
gesetzte Richtung kühn umgebogen werden kann.
Wenn Prof. Paulsen (Imm. Kant. Sein Leben
und seine Lehre /11899 399) sagt: „Es gibt, ab-
gesehen von der Logik und Mathematik, nur rela-
tive, nicht ewige Wahrheiten“, so kommt nach der
Meinung Spittas auch den mathematischen Sätzen
„absolute Geltung ebensowenig zu wie irgend
einer andern wissenschaftlichen Erkenntnis“ (Mein
Recht auf Leben (1900] 63), woraus dann
der nihilistische Satz von Nietzsche von selbst er-
fließt: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.“ Die
Übertragung des Satzes von der Wandelbarkeit
der (relativen) Wahrheit auf die kirchlichen Dog-
men hat Pius X. im sog. „Neuen Syllabus“
vom 3. Juli 1907 mit Recht als verderblichen
Modernismus verpönt (vgl. Fr. Heiner, Der neue
Syllabus Pius' X. [1907] 251 ff; A. Caval-
lanti, Modernismo e Modernisti (Brescia
entwegte, durch alle Jahrhunderte zäh festgehal- 1907)). Auf religiösem Gebiet erhält die Zweifel-
tene Standpunkt vom modernen Zeitbewußtsein sucht den Namen Indifferentismus, dem
als „intransigente Schroffheit“, ja als „.unerträg= der Zug eigentümlich ist, daß er entweder jede