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ticum, pravitas haereticalis) will aus dieser
Grundstimmung heraus psychologisch erklärt wer-
den und soll keinen verletzenden Vorwurf gegen
Andersgläubige aussprechen, die in ehrlicher Uber-
zeugung und fester Glaubenstreue ihrem Bekennt-
nis anhangen. Darin stört ja auch die Kirche sie
nicht, ebensowenig wie der Staat. Kein Evan-
gelischer nimmt Anstoß an der in den Lehrbüchern
der Kirchengeschichte konstatierten Tatsache, daß
die evangelisch-lutherische Kirche nach langen
Krämpfen und Zuckungen endlich durch die Kon-
kordienformel 1577 das kryptocalvinische „Gift“
der philippistischen Irrlehren aus ihrem Körper
ausgeschieden habe. Und hat denn der Melan-
chthonianismus nicht wirklich auf den lutherischen
Glaubenskörper wie eine Blutvergiftung gewirkt?
Etwas anderes will der Ausdruck auch mit Bezug
auf den katholischen Glaubenskörper nicht besagen,
obschon wir den Terminus, weil er erfahrungs-
gemäß verletzend wirkt, für die Zukunft lieber ver-
mieden sehen möchten. — V9gl. Hinschius, Das
Kirchenrecht der Kath. u. Protest. in Deutsch-
land. Bd VI: System des Kirchenrechts (1897);
E. Schäfer, Beiträge zur Gesch. des span. Prote-
stantismus und der Inquisition im 16. Jahrh.
(8 Bde, 1902); Douais, L'Inquisition, ses
drigines, sa procêödure (Par. 1906). Muster-
haft ist Vacandard, L'Inquisition. Etude bi-
storique et critique sur le pouvoir coercitif
de lEglise (Par. 1907).
II. Bekenntnisfreiheit ist das persön-
liche Recht des Menschen, seine innere Glaubens-
überzeugung durch Wort oder Schrift zu äußern,
ohne durch die äußere Rechtsordnung darin gestört
zu werden. Als Unterart der individuellen Frei-
heit der Meinungsäußerung gehört die Erkenntnis-
freiheit zu den sog. „Freiheitsrechten“ und ist folg-
lich zunächst ein privatrechtlicher Rechtsbegriff, der
nur insofern auch in das öffentliche Recht über-
greift, als die äußere Rechtsordnung einerseits
die Privatrechte des Individuums gesetzlich zu ge-
währleisten und zu schützen hat und anderseits be-
stimmend und ordnend dort eingreifen darf, wo#
die individuelle Religionsfreiheit zu Gesellschafts-
bildungen gleichgesinnter Anhänger und Glaubens-
genossen führt. Auch mit Bezug auf die Bekennt-
nisfreiheit darf und muß der moderne Rechtsstaat
eine weitherzigere Stellung einnehmen als die
durch göttliche Satzungen gebundene Kirche, wenn
schon auch sie die zu Recht bestehenden Verhält-
nisse aus Gerechtigkeit achtet und unangetastet läßt.
1. Der Standpunkt der Kirche bezüglich der
Bekenninisfreiheit läßt sich kurz also präzisieren:
Für sich selbst muß sie vor allem das Recht der
Predigtfreiheit in Anspruch nehmen, zugleich aber
von ihren Anhängern das offene Bekenntnis zum
ganzen katholischen Glauben fordern. Was die
Andersgläubigen betrifft, so legt sie den Katho-
liken ein strenges Liebesgebot auf, behält sich selbst
aber das Recht vor, gegen Apostaten, Schismatiker
und formelle Häretiker mit kirchlichen Strafen vor-
Staatslexikon. I. 3. Aufl.
Bekenntnisfreiheit.
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zugehen. Diese Grundsätze bedürfen einer nähe-
ren Erklärung und Begründung.
a) Mit dem Auftrag Christi, hinauszugehen
in alle Welt und den Völkern das Evangelium
zu verkünden (Matth. 28, 19. Mark. 16, 15.
Luk. 24, 47), hat die Kirche in feierlicher Form
das Recht und die Pflicht übernommen, die Lehre
Christi und der Apostel frei vor aller Welt, na-
mentlich auch in den Heidenmissionen, zu
vertreten sowie speziell der katholischen Christen-
heit auch solche Dogmen als göttliche Wahrheit
zum Glauben vorzustellen, welche unter dem Bei-
stand des Heiligen Geistes im Lauf der Jahr-
hunderte in rechtmäßiger Entwicklung aus dem
depositum fidei hervorwuchsen (z. B. lehramt-
liche Unfehlbarkeit des Papstes). Weil aus dem
festgefügten Glaubensgebäude kein Stein sich aus-
brechen läßt, ohne daß der ganze Bau zusam-
menstürzt, so leuchtet ein, daß die Kirche von
ihren Anhängern den Glauben an alle Offen-
barungswahrheiten fordern muß, keine einzige
ausgenommen. Mit dem Recht auf freie Pre-
digt ihres ganzen Glaubens= und Sittensystems
und dem Recht auf unbedingten Glau-
bensgehorsam ihrer Kinder steht und fällt
die Kirche. Keine irdische Macht kann sich des-
halb das Recht anmaßen, die zur Erfüllung dieser
Doppelaufgabe nötige Freiheit ihr zu entreißen,
zu verkürzen oder zu beschränken. Wo immer im
Lauf der Jahrhunderte kirchenfeindliche Versuche
zur Entziehung oder Einschränkung der kirchlichen
Lehrfreiheit sich hervorwagten, da antwortete die
Kirche stets mit den Worten der Apostel (Apg.
5.29): „Man muß Gott mehr gehorchen als den
Menschen.“ Der tiefere Rechtsgrund für diese
Lehrunabhängigkeit von der Staatsgewalt liegt
in dem Satz des öffentlichen Kirchenrechts, daß
die katholische Kirche eine ebenso vollkommene und
selbständige Gesellschaft ist als der Staat,
von dem sie bezüglich ihres Zieles und ihrer Mittel
völlig unabhängig und dem sie auf keinen Fall
untergeordnet ist. „Hätte Christus“, schreibt
V. Cathrein, „die Verkündigung seines Evan-
geliums von staatlicher Genehmigung abhängig
gemacht, wahrscheinlich wäre Europa nie christ-
lich geworden. Glücklicherweise kümmerten sich die
Apostel weder um das Predigtverbot des Syn-
edriums noch um die Religionsedikte der römischen
Cäsaren; sie fühlten sich in ihrer Sendung voll-
ständig unabhängig“ (Die katholische Moral in
ihren Voraussetzungen und ihren Grundlinien
[19071 246). Mißtrauen, Abneigung und Arg-
wohn gegenüber der Kirchenlehre sind um so un-
begründeter, als die Kirche nunmehr fast schon
2000 Jahre im vollsten Licht der Offentlichkeit
ihre Glaubens= und Sittensätze furchtlos verbreitet,
in ihrer Dogmatik die sublimsten Wahrheiten vor-
trägt und in ihrer Moral eine Reinheit und Ho-
heit der Tugendgesinnung verrät, welche die tiefsten
Wurzeln des Gemeinschafts= und Staatslebens
selbst wunderbar kräftigt und dazu die Gehorsams-
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