Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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war man ohne die Todesstrafe ausgekommen. 
Abgesehen von den Strafen gegen Kleriker, denen 
mit der Amtsentsetzung auch ihr Einkommen ent- 
zogen wurde, kennt Cyprian (gest. 258) nur geist- 
liche Zuchtmittel und verwirft alle äußeren Ge- 
waltmaßregeln, wie sie im Alten Testament in Ubung 
waren (vgl. S. Cypr., Ep. 4, 4, hrsg. von Hartel: 
Tunc quidem gladio occidebantur, quando 
adhuc et circumcisio carnalis manebat; nunc 
autem quia circumcisio spiritalis esse ad 
fideles servos Dei coepit, spiritali gladio 
superbi et contumaces necantur, dum de 
ecclesia eiciuntur). Als Ausschluß vom Heil 
galt die Exkommunikation als die schwerste Strafe; 
sie war „Lgeistliche Todesstrafe". Eines der älte- 
sten Beispiele von Ketzertötung war die Enthaup- 
tung der priscillianistischen Rädelsführer zu Trier 
385 durch den Usurpator Maximus, dessen Vor- 
gehen die Proteste des hl. Martin von Tours, 
Ambrosius von Mailand und des Papstes Siri- 
cius hervorrief (bgl. Histor.= polit. Blätter XCO 
330 ff). Da kam Augustinus (gest. 430). An- 
fangs zur Milde geneigt und auf rein geistliche 
Gegenmittel bedacht, billigte er zuletzt die staat- 
lichen Repressalien gegen die Donatisten, nachdem 
er die guten Früchte mit eigenen Augen gesehen 
hatte (vgl. S. August., Retract. II 5: Et vere 
tunc non mibi placebat, quia nondum erx- 
pertus fueram, vel duantum mali auderet 
impunitas vel quantum eis in melius mutan- 
dis conferre posset diligentia disciplinae). 
Aber für eines war auch Augustinus nicht zu 
haben: die Ketzertötung (Ep. 127: Corrigi eos 
cupimus, non necari). Unter den Merowingern 
und Karolingern war die Ketzerei noch kein bür- 
gerliches Verbrechen und wurde mit keiner welt- 
lichen Strafe belegt. Ein Umschwung trat erst 
im 11. Jahrh. ein, als der von den oströmischen 
Kaisern Theodosius und Justinian blutig verfolgte 
Manichäismus in den Katharern und Albi- 
gensern wieder auflebte. Über die Gemeingefähr- 
lichkeit dieser Sekten urteilt Döllinger (Kirche und 
Kirchen [1861) 51): „Jene gnostischen Sek- 
ten, die Katharer und Albigenser, welche eigentlich 
die harte und unerbittliche Gesetzgebung des Mittel- 
alters gegen die Häresien hervorriefen und in blu- 
tigen Kriegen bekämpft werden mußten, waren die 
Sozialisten und Kommunisten jener Zeit; sie 
griffen Ehe, Familie und Eigentum an. Hätten 
sie gesiegt, ein allgemeiner Umsturz, ein Zurück- 
sinken in die Barbarei und heidnische Zuchtlosig- 
keit wären die Folge gewesen.“ Unter dem offen- 
kundigen Einfluß des römischen Rechts, das man 
damals eifrig zu studieren begann, führte der ge- 
wiß nicht päpstlich gesinnte Hohenstaufenkaiser 
Friedrich II. im Jahr 1224 durch Reichsgesetz 
die Strafe der Ketzerverbrennung ein (vol. Mon. 
Germ. IV, Leg. II 326 ff). Von jetzt ab traten 
auch die Päpste, vorab Gregor IX. (gest. 1241), 
mit aller Macht für die strenge Durchführung der 
weltlichen Ketzergesetze ein, indem sie dieselben 
Bekenntnisfreiheit. 
  
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als willkommenes Mittel zur Reinerhaltung der 
Lehre begrüßten (vgl. Hinschius, Kirchenrecht der 
Katholiken u. Protestanten in Deutschland V 387). 
Daß die Gemeingefährlichkeit der meisten Häre- 
sien weder Staat noch Kirche zur Milde stimmen 
konnte, liegt auf der Hand. Die berüchtigten 
„Zirkumzellionen“ der Donatisten, die Blut- 
taten der Albigenser trugen so offensichtlich das 
Brandmal des Aufruhrs auf der Stirne, daß die 
Staatsgewalt unmöglich diesem Treiben mit ver- 
schränkten Armen zusehen durfte. Würde nicht 
auch der moderne Staat gegen eine Wiederholung 
der Greuelszenen unter den Wiedertäufern in 
Münster mit der Waffe einschreiten? Allerdings 
haben weder die deutschen Kaiser noch die mittel- 
alterlichen Kanonisten zwischen staatsgefährlichen 
und harmlosen Ketzern unterschieden, sondern jedes 
Glaubensverbrechen an sich als todeswürdige con- 
tumelia Creatoris hingestellt, die den rächenden 
Arm des Glaubensstaats herausfordere. Und diese 
verhängnisvolle Grundanschauung läßt sich noch 
bis in die Schriften von Martin Luther, Melan- 
chthon, Butzer, Vinzenz und Wenzeslaus Sturm, 
Strigel, Matthias Coler und anderer protestan- 
tischer Koryphäen hinein verfolgen. Für die herbe 
Ketzergesetzgebung der Vorzeit ist teils die durch- 
gängige Gemeingefährlichkeit der damaligen Häre- 
tiker, teils die unselige Verquickung des Kirchen- 
glaubens mit dem Staatszweck, teils dieexorbitante 
Barbarei der alten Strafjustiz überhaupt verant- 
wortlich. — Vgl. J. Ficker, Die gesetzliche Ein- 
führung der Todesstrafe für Ketzer (Mitteilungen 
für österr. Geschichtsforschung I (1880] 177 bis 
226); J. Havet, L'hörésie et le bras séculier 
au moyen äage jusqu'’au XIII siècle (Par. 
1896); Timpe, Die kirchenpolit. Ansichten und 
Bestrebungen des Kardinals Bellarmin (1905); 
J. B. Haring, Kirche und Staat (1907). Über 
die Reformation vgl. P. Schanz, Apologie des 
Christentums III (21906) 344 ff. 
e) Aus vorstehenden Erwägungen und Tat- 
sachen ziehen wir fünftens den Schluß, daß die 
unrühmliche Sitte der Ketzerverbrennungen im 
Grund genommen eine Kulturfrage ist, keine 
Rechtsfrage. Je tiefer das Niveau der Zivilisa- 
tion einer Zeit, desto größer die Grausamkeit bei 
der Bestrafung von Verbrechen. Schon die Ein- 
führung der Folter in den Ketzerprozeß durch 
Papst Innozenz IV. (1252) zeigt uns wie in 
einem trüben Spiegel die ganze Unweisheit und 
Rückständigkeit der Kulturanschauungen des Mit- 
telalters. Der Anbruch der Reformation brachte 
trotz der vielgepriesenen „evangelischen Freiheit" 
keine Besserung, wie allein schon die häßlichen 
Hexenprozesse in protestantischen und katholischen 
Ländern bis zur Beschämung bezeugen. Auch 
sonst herrschten halb asiatische Zustände. Nicht 
ohne Schaudern liest man, daß der Hochverrat in 
England — als solcher galt schon das bloße Be- 
kenntnis zum katholischen Glauben — mit dem 
Strang und dem Herausreißen des zuckenden
	        
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